Zwei Greifswalder Ganztagsschulen, die Maria-Montessori-Schule und das Humboldt-Gymnasium, haben Zeit und Geld in neue Raumkonzepte und die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern gesteckt. Diese Investitionen lohnen sich jetzt und neue Konzeptideen zeigen Erfolge. In Greifswald entdecken die Schüler beim Theaterspielen ihre individuellen Stärken.
Es ist Samstagvormittag und normalerweise wäre Juliane zu Hause, würde vielleicht sogar noch schlafen. Aber heute liegen schon intensive Probenarbeit hinter ihr. 28 ganz unterschiedliche Schülerinnen und Schüler spielen in der Theatergruppe und das kam der Rollenaufteilung zugute. „Wir erkennen, dass die Unterschiede der entscheidende Punkt sind. Im Theaterspiel merken wir, wie wir wieder zu einem Ganzen werden. Das ist phänomenal“, erklärt Juliane. Ihr Mitspieler Aron meint: „Es ist stressfrei, kein Leistungsdruck, nur der, den wir uns selber setzen und der lässt sich aushalten. Es ist ein unglaublich starkes Gefühl mal richtig zu arbeiten, sich in eine einzige Sache zu vertiefen und mit ihr eins werden.“ Und schiebt hinterher: „Auch wenn es abgedroschen klingt: Ich habe sehr viel mehr über mich selbst gelernt.“
Erst durch mehr Platz und außerschulische Partner wurde das Theaterspielen an der Greifswalder Montessorischule möglich. Es ist ein besonderes Konzept der individuellen Förderung, in der die Entfaltung der Persönlichkeit zu gelingen scheint. In einem Radiobeitrag des NDR heißt es über das Theaterprojekt: „In wenigen Minuten geht der Vorhang auf für Bertolt Brechts ‚Der Jasager‘. Einem jener Lehrstücke, mit dem Brecht den Ausbruch aus dem klassischen Theater probte. Ein Stück, was kaum noch irgendwo gespielt wird, es sei denn in einem außergewöhnlichen Theaterprojekt, zum Beispiel mit Schülerinnen und Schülern an einer Ganztagsschule in Greifswald. Die Inszenierung stellt die Frage in den Mittelpunkt: Wozu sage ich ‚Ja‘ und wozu sage ich ;Nein‘. Auf dem Weg zur Premiere haben sich die Schülerinnen und Schüler mit außergewöhnlichen Ausdrucksmitteln wie chorischem Sprechen, Tanz und Rhythmus befasst. Für die Schüler war der Ausflug in die Theaterwelt mehr als nur ein Abenteuer.“
Die Geschichte zum Konzept
Die Greifswalder Montessorischule ist seit ihrer Gründung mit jeder neuen Klasse stetig gewachsen. Die Schule folgt der Philosophie, das Kind und seine Individualität in den Mittelpunkt zu stellen, und sie baut auf die Selbstentfaltungskräfte der Lernenden. Maria Montessori glaubte an den Eigenwert des Kindes, das, wenn es in seinem eigenen Rhythmus und den eigenen Interessen folgend lernt, Selbstvertrauen und Selbstständigkeit entfaltet. Die Kinder werden durch die Ausgestaltung und Angebote der Lernumgebung zum „Baumeister ihres Selbst“.
„Wir haben stets Sorge, das Potenzial der uns anvertrauten Kinder nicht auszuschöpfen. Hier beim Theaterspielen überspringen sie nun von selbst ihre Grenzen und gestalten auf vielleicht sehr riskante Weise einen selbst gesteuerten Erfahrungsprozess“, sagt Schulleiter Nils Kleemann. Die Wirkung des Theaterspielens habe ihn in den ersten Jahren besonders verblüfft und er schätze die Idee des Theaterspielens als eine weitere und sehr entscheidende Möglichkeit zur Selbstförderung, in einer die Gruppe, die zu einer Vertrauensgemeinschaft wird.
Wie es zum Theaterspielen kam
Das Haus der Montessori-Schule hatte anfangs nur Platz für Kinder bis zur 4. Klasse und der Abschied danach fiel den Kindern sehr schwer. Zuschüsse aus dem Investitionsprogramm für Ganztagsschulen (IZBB) ließen 2006 einen Erweiterungsbau zu, neue Räume und ein Theatersaal entstanden. Die Kinder konnten bis zur 7. Klasse bleiben. Die Theatertradition wurde durch ein Projekt mit der erfolgreichen Kinderbuchautorin Antonia Michaelis ins Leben gerufen. Sie schrieb Stücke für die Greifswalder „Montis“, probte mit ihnen und die Lehrerkräfte erlebten, was ihre Schülerinnen und Schüler leisten wollen und wie auch antriebsschwache Kinder sich im Theaterspiel veränderten. Das wurde aufgegriffen und führt zu eine höheren Lernmotivation und Leistungsentfaltung.
Jetzt arrangiert sich Nils Kleemann mit dem benachbarten Gymnasium. Etliche seiner ehemaligen „Montis“ erhalten damit Gelegenheit ein weiteres Mal Theater zu spielen. Die Montessori-Grundschule hat eine feste Kooperation mit dem Humboldt-Gymnasium verabredet. Jeden Januar ziehen die Jugendlichen der Klasse neun für fünf Wochen in ihre „alte“ Montessori-Schule. Hier treffen sie täglich eine Theaterregisseurin und den Choreographen. Von morgens bis abends wird über einen Monat geprobt. Dann wird das Stadttheater bezogen und die eigentliche Bühne erobert. Vier bis sechs öffentliche Vorstellungen sind immer angesetzt.
Was es bewirkt
Als der „Jasager“ zur Aufführung kommt, verlassen Jugendliche aus anderen Schulen nachdenklich den Zuschauerraum. Man kennt sich in der Kleinstadt. Auf die Frage, was ihnen nach dem Stück durch den Kopf geht, kommt die Antwort: „Ich weiß nicht, ob ich den Mut gehabt hätte, so aus mir herauszukommen. Es ging um eine Rolle, die im wirklichen Leben verschwiegen wird, die es eigentlich gar nicht gibt, weil sie wohl albern ist.“ Er meint die Rolle des Kindes, der seiner Mutter Medizin holen möchte und deswegen über die Berge geht und sein Leben riskiert. Der Schüler aus dem Zuschauerraum kennt den Schüler auf der Bühne, er hatte ihn ganz anders eingeschätzt, jetzt ist er verblüfft, weil Vorurteile nicht mehr stimmen. Das Ergebnis der Aufführung hinterlässt unterschiedlichste Eindrücke. Eine Lehrerin meint: „Viele aus unserer Stadt haben etwas von diesem Engagement. Die Bühne erlebt echtes Theater. Mit Brecht lockt man hierzulande nur noch selten Leute ins Theater. Heute war jeder Platz besetzt.“
Rezeptur dieses Erfolgs
Als Schulleiter Nils Kleemann noch einmal gefragt wird, was die Rezeptur dieses Erfolgs ist, antwortet er: „Die Lehrer müssen von der Ich-kann-alles-Rolle weg! Die Schüler müssen erleben, dass Erwachsene noch nicht fertig sind mit ihrer Welt, sondern dass sie nach wie vor kämpfen, um ihr Selbst, um ihre Ziele und Wege. Wenn wir das auf glaubwürdige Weise zeigen, dann überträgt sich das und macht Mut“ Es sei eigentlich ganz einfach Lehrer zu sein: Mitmachen!
Auf die Frage, was Theaterspielen mit individueller Förderung zu tun hat, meint Kleemann: „Wenn wir dem Schüler keine Chance zur Selbsterfahrung geben, kann er nur von außen beschrieben werden und wie könnten wir uns da sicher sein? Den Schüler zu begleiten, setzt voraus, dass er um seine Möglichkeiten weiß und sie in irgendeiner Weise kommuniziert.“ Unter anderem von der Bühne.
Datum: 01.02.2012