Die Ganztagsschule eröffnet neue Möglichkeiten einer kontinuierlichen Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern und durch sie können auch unterschiedliche Formen kultureller Bildung stärker als bisher in die Schulen hineingetragen werden Die Schulen müssen allerdings mit Gestaltungsfreiheit und Honorarmitteln ausgestattet sein, um künstlerische Kompetenz von externen Experten – den Künstlern – in die Schulen zu holen.
Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung hat in Zusammenarbeit mit der PwC-Stiftung im Rahmen des Ganztagsschulprogramms eine Initiative ins Leben gerufen, um kulturelle Bildung an der Ganztagsschule zu fördern. Das Themenatelier für „Kulturelle Bildung an der Ganztagsschule“ setzt ein besonderes Augenmerk auf die Kooperationsbeziehungen von Ganztagsschulen im Feld der ästhetischen Bildung. Auf dem 3. Ganztagsschulkongress am 22. und 23. September in Berlin wurden einige Ergebnisse des ersten Jahres sichtbar. Die Zusammenarbeit von Schulen aus Bremerhaven mit der Tanzpädagogin Claudia Hanfgarn und dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven beispielsweise spiegelte sich in einer spannenden Aufführung gemeinsam entwickelter Tanzprojekte wieder: „Klangkörper – Körperklang“ und „OzonTanz“. Was Claudia Hanfgarn mit ihren vielen Projekten bewirkt, beschreiben Lokalzeitungen in Artikeln über die Arbeit der Tanzpädagogin auf ganz eigene Weise: „Kleine Reisen in die Hemmungslosigkeit“ (Nordseezeitung, 23.11.2000) oder „In der Schule aus der Reihe tanzen“ (taz Bremen, 22.11.200).
„Natürlich haben sie auch was über Tanz gelernt.“
…, korrigiert Claudia Hanfgarn sofort Fragen nach den Inhalten der Tanzvorführungen. „Vor allem aber haben die jungen Leute gelernt, eigene Ideen und Visionen zu entwickeln, sie in eigene Bilder umzusetzen und diesen zu glauben und sie zu präsentieren.“ Keine leichte Aufgabe besonders für Kinder, die vorwiegend in einem sozial schwierigen Umfeld in Bremerhaven aufwachsen, einer Stadt mit rund 116000 Einwohnern und einer Arbeitslosigkeit über 20 Prozent – Tendenz steigend. „Wir sind der Osten im Westen, was das angeht“, sagt die Tänzerin, die selbst in der Stadt an der Wesermündung lebt. Was sie an diesem Ort versucht, das ist am Ende nichts anderes als ein Annäherungsversuch von Heranwachsenden an Kultur. Das Tanzprojekt „Klangkörper – Körperklang“ hat die Tanzpädagogin mit Schülerinnen und Schülern der Immanuel-Kant-Schule realisiert, einer Haupt- und Realschule, die seit zwei Jahren als Ganztagsschule arbeitet. Ebenfalls im November 2005 hatte Claudia Hanfgarn mit Schülerinnen und Schülern der Körner-Schule und des Lloyd Gymnasiums in Bremerhaven das Projekt „OzonTanz“ begonnen. Und wie so oft bei ihren Projekten war ein dritter Partner mit im Bunde, in diesem Fall das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung.
Ich selbst war oft eine unglückliche Schülerin
Claudia Hanfgarn arbeitet schon seit 20 Jahren mit Kindern und Jugendlichen. Von Beruf ist sie Tänzerin und Tanzpädagogin. „Inzwischen bestehen zwei Drittel meines Arbeitslebens aus Projekten mit Kindern und Jugendlichen und die Anfragen werden immer mehr.“ Seit fünf Jahren finanziert die Stadt Bremerhaven das von ihr mit dem Schulamt entwickelte Projekt TAPST (Tanzpädagogisches Projekt Schultanz). Das verbleibende Drittel Arbeitszeit verbringt die inzwischen 45jährige Tänzerin auf der Bühne des Stadttheaters Bremerhaven. Sie wurde in London an der Central School of Ballet und an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover ausgebildet. Schon früh hatte sie sich der tanzpädagogischen Arbeit mit jungen Leuten zugewandt. Wie so oft bei engagierten außerschulischen Partnern haben eigene Erfahrungen aus der zurückliegenden Schulzeit auch Claudia Hanfgarn in die Schule (zurück)geführt. „Ich selbst war oft eine unglückliche Schülerin“, erinnert sie sich, „ich konnte meine Fähigkeiten nur zum Teil einbringen, ich fühlte mich beschnitten im Lebendigsein, in der eigenen Expressivität.“ Und daraus leitet sich der Grundsatz ihrer heutigen Arbeit ab: „Man muss Kontakt zu dem kriegen, was die Schülerinnen und Schüler wollen und was sie bewegt. Das sind Unsicherheiten im Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Identität. Das ist die erste Liebe, der ausgebliebene Anruf einer Freundin, Streit mit Mitschülern, Geschwistern, Eltern.“
An den beteiligten Schulen in Bremerhaven spiegeln sich zusätzlich die sozialen Verhältnisse stark wider, in denen die Kinder leben. Viele stammen aus Migrantenfamilien, viele sind übergewichtig, denn Medien bestimmen den Alltag, es herrscht Arbeitslosigkeit. „Wir leben in einer sehr verunsicherten Gesellschaft“, sagt Claudia Hanfgarn, „und viele Kinder in Bremerhaven haben keinen Zugang zu dem, was wir als Kultur bezeichnen.“ Kultur (lat. cultura), also Pflege (des Körpers, aber primär des Geistes), ist die Gesamtheit der menschlichen Leistungen. Dies schließt die durch den Menschen hervorgerufene Veränderung der Natur, die geistigen Hervorbringungen wie Schrift und Kunst sowie die sozialen Organisationsformen, in denen sie zusammenleben, ein. Viele Jugendliche schrecken davor zurück, denn sie haben keinen vorbereiteten Zugang und primäre Erfahrungen fehlen: Es scheint sinnlos, weil die Sinne nicht ausreichend aktiviert bzw. sensibilisiert sind.
Am sichersten haben wir uns vor Erwachsenen gefühlt
„Beim Tanz aber führt kein Weg daran vorbei, dass man sich selbst fühlt. Die Kinder spüren sich. Tanz ist etwas ganz nah am Körper. Und nah am Körper sein, das heißt, nah am Leben sein. Für viele Schüler ist das die einzige Möglichkeit, den Kontakt zur eigenen Identität aufzunehmen und damit letztlich auch einen Kontakt zur Kultur.“ Nesibe und Elif von der Immanuel-Kant-Schule in Bremerhaven sind 15 Jahre alt und haben mitgetanzt bei „Klangkörper – Körperklang“. „Man musste sich erst dran gewöhnen!“, beschreiben die beiden türkischen Mädchen die Grundstimmung in der Gruppe. „Nicht alle Jungs tanzen, aber sie machten mit und stehen hinter uns“. In der Aufführung auf dem Ganztagsschulkongress war das zu beobachten – zwei Jungen tanzten, die anderen waren zuständig für Musik und Licht – Elemente die eine wichtige choreographische Bedeutung haben. Mit den Projekten geht immer auch einher, dass soziales Lernen stattfindet.
„Wir haben uns in der Klasse viel besser kennen gelernt“, erzählen die jungen Mädchen weiter, „früher gab es viel mehr Streit, jetzt wollen wir viel mehr zusammen machen.“ Im Rahmen des Themenateliers „Kulturelle Bildung“ hat Claudia Hanfgarn mit ganzen Schulklassen gearbeitet. Beifall gab es übrigens immer, berichten beide, und Auftritte in der Schule haben sie ohne Hemmungen gemeistert. „Denn da waren ja unsere Freunde“. Sicher, einige der jugendlichen Zuschauer hätten bei den ersten Aufführungen Witze gemacht und herumgealbert. Und dann kommt ein Satz, den man von Teenagern nicht unbedingt erwartet: „Am sichersten haben wir uns vor Erwachsenen gefühlt, die respektieren uns.“
Tanz für nachhaltige Entwicklung!
Die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler mit dem „OzonTanz“ waren sowohl fachlicher als auch sinnlicher Art – eine noch ungewohnte Kombination von Attributen in einem schulischen Lernprozess. „Was Ozon ist und welche Probleme da dran hängen, wir haben es in unserem Tanz gezeigt und das ist jetzt in unseren Körpern gespeichert. Die Bilder sind lebendig und das vergessen wir nicht mehr. Wir haben chemisch getanzt!“ Schüler einer fünften Klasse formulieren so ihre Erfahrungen mit dieser Art des Lernens. Das Tanzvorhaben wuchs zu einem fächerübergreifenden Projekt an. Beteiligt waren verschiedene Fachlehrerinnen und -lehrer, z.B. aus den Bereichen Biologie, Physik und Geografie. Im Kooperationsschluss mit dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung gelang eine ungewöhnliche Transformation von wissenschaftlichen Erkenntnissen in eine tänzerische Performance. Das Besondere an dieser außergewöhnlichen Zusammenarbeit war, dass Claudia Hanfgarn sich selbst auch erst einmal mit der fachlichen Materie befassen musste. Das hatte zur Folge, dass die Jugendlichen und ihre Tanzlehrerin die Verblüffung über die neuen Lernerfahrungen gemeinsam ausdrücken konnten – ein nicht zu unterschätzender Effekt. „Was berührt ist, dass wir nur leben, weil da diese ganz dünne Ozonschicht tausende Kilometer über uns ist – und diese gilt es zu erhalten!“ Tanz für nachhaltige Entwicklung, sozusagen!
„Gerade die Jungen haben große Hemmungen, ihre Männlichkeit in den Tanz zu integrieren. Die Mädchen sind aufgeschlossener und bringen ein größeres Selbstverständnis im Umgang mit ihren Körpern mit, das ist häufig zu beobachten.“ In den unzähligen Tanzproben fand stets ein natürlicher Rollentausch zwischen Zeigen und Zuschauen statt und „das ist eine Übung, die so wichtig ist für das soziale Lernen“. Denn wie teile ich einem Mitschüler Kritik mit für etwas, was diesem schon so nicht leicht fällt, es überhaupt zu zeigen. Das sind Austauschprozesse, die in Schulen und vor allem im Fachunterricht oft außen vor stehen! Um welchen Preis?
Fachliches Lernen mit sinnlicher Choreographie
Choreografisch ausgefeilt setzen die Kinder der Körner-Schule und des Lloyd-Gymnasiums bei der Aufführung die natürlichen wie die problematischen chemischen Vorgänge in Szene – sie selbst sind Atome, Moleküle, mal Sauerstoff, mal das gefährliche FCKW, mal Ozon. Und so kreisen die Kinder beim „OzonTanz“ als eiskalter Polarwirbel über die Bühne, dann verknoten sich je drei zu Sauerstoffatomen, werden zu einem Ozon-Molekül und fallen schließlich wieder auseinander. „Jeder Einzelne und sein fachliches Verständnis sind wichtig, sonst funktionieren die entstehenden Bilder nicht“, kommentiert Claudia Hanfgarn die mit den Kindern und Jugendlichen entwickelte naturwissenschaftliche Tanzchoreografie. Was es mit dem Ozon auf sich hat, das ist nun bei den 22 Schülerinnen und Schülern aus Bremerhaven „im Körper drin“. Claudia Hanfgarn variiert den Gedanken: „Man kann auch bewegt und durch Bewegung lernen.“ Auf eine ganz neue und wohl auch bisher einmalige Weise hat sich hier fachliches Lernen mit ästhetischer Bildung verbunden.
Sie sind wie Edelsteine
Claudia Hanfgarn erlebt ihr Engagement für Kinder und Jugendliche auch für sich selbst als befruchtend. „Auch meine Kunst hat sich verändert, ich habe das Gefühl, ich bin näher am Leben dran. Spannend ist für mich die Echtheit der jungen Leute, die noch nicht das Gefühl für ihre eigene Identität haben. So sind diese wie Edelsteine: Wenn man sie an nur einer Stelle ein wenig geschliffen hat, dann kommt da ein ungeheures Licht zum Vorschein.“
Angesichts der auf dem Ganztagsschulkongress oft beschworenen neuen Rhythmisierung von Schule hat sie für ihre Tanzprojekte klare Vorstellungen. „Das geht besser am Vormittag, da sind die Kinder besser in Form. Und Tanzen ist anstrengend. Am Nachmittag ist es viel schwerer, die Kinder bei der Stange zu halten.“ Dem können die beiden türkischen Mädchen Nesibe und Elif nur beipflichten. Aber weil es so einen Spaß gemacht hat, wären sie auch am Nachmittag gern zum Tanzprojekt gegangen. Die Künstlerin jedoch hat ihren eigenen Blick auf die Ganztagsschule: „Das was am Vormittag ist, sollte auf den ganzen Tag verteilt werden. Und wenn es eine gebundene Ganztagsschule ist, dann muss es ein angenehmer Lebensraum sein, nicht einer, wo es laut und dreckig ist. Solange jede Stunde länger bleiben noch ´ne Strafe ist, hat die Ganztagsschule kaum eine Chance.“
Hanfgarns Arbeit wird durch die Überlegungen von Prof. Dr. Peter Fauser vom Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena gestützt. Dieser schreibt: „In der Regel wird die sozialisatorische Dimension von ästhetischem Lernen nicht thematisiert. […] Ästhetisches Lernen ist in der Regel prozessorientiert. […] Dabei fordert und fördert das ästhetische Lernen über die Bildung der Sinnestätigkeit alle übrigen Formen des praktischen und theoretischen Verstehens. […] In diesem Sinne bedeutet und erfordert kulturelle Bildung und ästhetisches Lernen eine wesentliche Korrektur und Erweiterung der Vorstellungen von Lernen und Leistung.“
Autor: Dr. Martin Haufe/NDR
Datum: 6.10.2006
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