Die Südschule Lemgo setzt auf Lernzeiten statt Hausaufgaben.

von Britta Kuntoff

Die neunjährige Jasmin weiß ziemlich genau, was sie will. „Frau Beermann,“ spricht die Viertklässlerin der Südschule Lemgo ihre Lehrerin an, „in der Lernzeit gestern habe ich gemerkt, dass ich diese Aufgaben mit der Multiplikation noch nicht verstanden habe. Eigentlich wollte ich ja morgen die Arbeit schreiben, kann ich das auch Freitag machen?“ Christine Beermann nickt, und das Mädchen führt aus: „Dann würde ich gleich mit dir noch mal die Seite 36 besprechen und in der Lernzeit heute dann Seite 37 durchrechnen. Ist das in Ordnung?“

Einen Testtermin individuell festlegen? Das Arbeitsprogramm von Schülerhand bestimmen lassen? Christine Beermann freut sich. „Das Kind hat sich selbst organisiert, eingeschätzt und plant seine Übungsaufgaben über die Woche hinweg – genau so muss es sein,“ meint die Konrektorin der Grundschule im Nordosten Nordrhein-Westfalens. 330 Jungen und Mädchen gehen hier zur Schule, 163 davon besuchen Ganztagsklassen. Die Schülerinnen und Schüler der 1. bis 3. Klassen werden jahrgangsübergreifend unterrichtet.

Eigenverantwortlichkeit, selbständiges Arbeiten und individualisierter Unterricht – das sind ganz wesentliche Aspekte des Schulkonzepts in Lemgo. Eckpfeiler, durch die auch das jahrzehntelang gültige Programm von Hausaufgaben umgebaut und neu gedacht werden musste. Anstatt nachmittags daheim über Hausaufgaben zu brüten, arbeiten die Schülerinnen und Schüler in Lernzeiten, die im Schulgebäude organisiert sind. Die sind für die Ganztagsschulkinder zweimal wöchentlich nach dem Mittagsessen und einer freien Zeit fürs Toben oder Ausspannen vorgesehen. Die restlichen drei Tage der Schulwoche sind rhythmisiert, das heißt mit Unterricht versehen und lernzeitenfrei.

Für Ulrike Stiewe, Diplompädagogin und die Koordinatorin für den Ganztagsbetrieb an der Südschule Lemgo, ist das Lernzeitenkonzept die logische Konsequenz aus der offenen Methode des Unterrichts. „Die Kinder arbeiten so, wie sie eben können, die eine schnell, der andere langsamer. Kein Kind ist genauso wie ein anderes“, erzählt Ulrike Stiewe. „Deshalb können wir die Kinder auch nicht plötzlich in den Lernzeiten über einen Kamm scheren und plötzlich für alle die Aufgabe 5c aus Übungsheft 2 aufgeben.“

Früher, erinnert sich Christine Beermann, kam kaum ein Elternteil zum Lehrer und berichtete, dass ein Kind Probleme mit den Hausaufgaben hatte. Viele verbesserten eher die Fehler und ließen damit die Lehrkräfte im Glauben, ihr Kind habe den Stoff verstanden.
Das änderte sich als die Südschule Lemgo ihren offenen Ganztagsbetrieb 2005/2006 aufnahm und es zunächst eine betreute Hausaufgabenhilfe gab. „Weil nun die Aufgaben nicht mehr Zuhause, sondern in der Schule und unter Beobachtung von Pädagogen gemacht wurden, haben wir überhaupt erst erfahren, wie fehlerhaft und oftmals widersinnig Hausaufgaben sind.“ Die meisten Kinder waren mit den Aufgaben unter- oder überfordert; die einen hatten sie ganz rasch erledigt, die anderen brauchten die doppelte Zeit oder mehr dafür. Nichts, was Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher hinnehmen wollten. Sie krempelten das frühere Hausaufgabenmodell komplett um: Damit jedes Kind so arbeiten  kann, wie es für ihn am besten ist, sind Zeitkontingente die strukturierende Einheit der Lernzeiten in Lemgo. Kinder der 1. und 2. Klassen haben 20 bis 30 Minuten, die höheren Jahrgänge bis zu einer Stunde Lernzeit. Während der Lernzeit beschäftigen sich die Mädchen und Jungen mit Aufgaben, die sich aus dem Unterricht ergeben und wieder in ihn hineinfließen. Entsprechend müssen es Übungen sein, die Kinder selbständig bewerkstelligen können.

So wie die Rechenaufgabe, über der gerade der Zweitklässler Elias sitzt und auf dem Stift kaut. „Wenn du nicht weiterkommst, dann nimm doch den 1×1-Pass“, ermuntert ihm sein Klassenkamerad Henning, der neben ihm den Buchstaben P in Schreibschrift übt. „Eigentlich müsste ich auch Mathe machen, aber ich komme mit einer Aufgabe nicht zurecht, und da bitte ich dann morgen meine Klassenlehrerin, mir das zu erklären“, sagt Henning.

Betreut werden die Lernzeiten von Erziehern wie Kai Lampe. „Lernzeiten dienen dazu, Erlerntes zu vertiefen und sich so auf die nächste Stunde vorzubereiten.“ Lernzeiten haben jedoch keine Unterrichtsfunktion. „Natürlich helfe ich zum Beispiel bei Flüchtigkeitsfehlern“, berichtet Kai Lampe, „aber wenn dem Kind ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben steht, dann muss der Lehrer es noch einmal erklären.“ Und das ist keine Schande. Denn an der Südschule Lemgo gelten Fehler nicht als Makel, sondern als eine Quelle, aus der man lernen kann.

Fehler sind zugleich wertvolle Rückmeldungen. Lehrerinnen wie Christine Beermann zeigen sie, wo sie mit ihrer Arbeit weitermachen oder aber etwas vertiefen müssen: „Wir müssen unser Denken umstellen und eine Einstellung zum Kind entwickeln, das auf Vertrauen und nicht auf Kontrolle setzt“, ist Christine Beermann überzeugt. Lehrkräfte seien Prozessbegleiter des Lernens. „Es geht nicht darum, eine Aufgabe zu stellen und hinterher zu schauen, wer die Hürde genommen hat und wer nicht. Wichtig ist vor allem zu gucken, wie jemand über das Hindernis gekommen ist, ob er vielleicht darunter her gekrochen ist oder jemand ihm eine Räuberleiter gebaut hat,“ meint die Konrektorin. Lernzeiten offerieren für sie die Chance für Lehrkräfte, Lernwege der Kinder zu verstehen.

Diese Lernwege geht Erzieherin Ulrike Stiewe tagtäglich mit und gibt sie meist auf kurzem Wege und im direkten Gespräch oder durch einen Eintrag im Lerntagebuch an die Lehrkräfte weiter. Sie ordnet und sortiert mit dem einen Mädchen Bausteine. Das andere Kind versteht die Aufgabe besser, wenn es Zahlenketten schreibt. „Jedes Kind muss die Möglichkeit haben, nach seinen Bedürfnissen und Voraussetzungen zu lernen“, glaubt die Erzieherin, die immer wieder beobachtet, wie Kinder sich gegenseitig unterstützen und dabei voneinander profitieren. Lernzeiten sind deshalb nicht selten unruhige Zeiten, aber sehr produktiv. „Die Schüler diskutieren miteinander und finden nicht selten Erklärungen, auf die ich gar nicht gekommen wäre, die einem Gleichaltrigen jedoch sehr verständlich sind.“

Was neu und ungewohnt ist, weckt oft Unbehagen. Das Team der Südschule Lemgo hat deshalb von Anfang an auf Transparenz gesetzt, Eltern in die Schule eingeladen und Konzepte immer wieder vorgestellt. Die meisten Mütter und Väter seien froh, von der „Hausaufgabenhilfe“ befreit zu sein, meint Christine Beermann. „Ich glaube, sie nehmen sich den Rat unseres SchulleitersTorsten Buncher gern zu Herzen: Mit den Kindern Zuhause nicht noch mehr zu schreiben, rechnen und arbeiten, sondern lieber zu spielen, zu lesen und die Zeit mit ihren Kindern einfach zu genießen.“