Die Oberschule an der Julius-Brecht-Allee in Bremen
Das Zusammenspiel von Lehrkräften und Sozialpädagogen soll an der Oberschule an der Julius-Brecht-Allee für mehr psychisches Wohlbefinden sorgen. Ob beim „Sozialen Lernen“, in der Mittagsfreizeit oder in der Arbeitsgemeinschaft – wichtig ist die Balance zwischen schulischen Anforderungen und der Entfaltung der Persönlichkeit.
„Ihr macht mir jetzt alles nach, was ich tue und was ich sage!“, erklärt Hartwig Hinney, 53-jähriger Sozialpädagoge, den Schülerinnen und Schülern in der Theater-AG. Die Mädchen und Jungen schauen ihn fragend an. Dann rauscht Hinney durch den Saal. Vor einem Fenster bleibt er stehen und zeigt mit pantomimisch überzeichneten Gesten nach draußen, als hätte er etwas Außergewöhnliches entdeckt: „Ein Baum!“ Zwölf Jungen und Mädchen zeigen ebenfalls mit ihren Fingern darauf und rufen: „Ein Baum!“
Daraufhin übergibt der Sozialpädagoge die Leitungsrolle an ein dunkelhaariges Mädchen und vermengt sich mit der Gruppe. Das Mädchen geht, läuft, tanzt im Kreis und zieht die Gruppe wie eine Schleppe hinter sich her. Als ein Junge im Kapuzenpulli an der Reihe ist, weiß er nicht so recht, was er vormachen soll. Hinney einladend: „Musst gar nicht so viel machen, einfach mal einen anderen Gang ausprobieren.“ Ihren Stimmungen und Eingebungen gemäß bewegen sich die Jugendlichen durch den Saal. Sie schlendern, stolzieren, lassen sich auf den Boden nieder, rollen gemeinsam auf dem beigefarbenen Teppich oder bewegen sich auf allen Vieren fort. Diese Übung regt die Fantasie an, und die Kinder lernen, genau zu beobachten und zu improvisieren, erklärt Hinney.
Vater- und Mutterfiguren
„In unserer hastigen Welt, in der viele Eltern ihre Kinder zuhause vor Fernseher oder Computer parken, brauchen die Kinder Vorbilder“, meint Hinney. Er sieht sich als Vaterfigur, als einen realistischen Gegenentwurf zu Fernsehstars. In mehr als 20 Arbeitsgemeinschaften im Wahlpflichtbereich gehen Mädchen und Jungen aus den fünften und sechsten Stufen zwei Mal in der Woche ihren Neigungen nach. Die Spanne der Kurse, die von Sozialpädagoginnen und -pädagogen, aber auch Lehrerinnen und Lehrern angeleitet werden, reicht von „Orchester“, „Fußball“, „Schulband“ und „Hip-Hop“ bis zu „Kunst für coole Kerle“. „Ohne den Ganztag gäbe es ein solches kreatives Miteinander nicht“, meint Jan Thiele, 35, Koordinator der Ganztagsschule und Lehrer für Musik, Mathematik und Informationstechnische Grundbildung.
Zu den Aufgaben der Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen gehört es, Freizeitbereiche wie das „Offene Atelier“, die „Chill-Zone“ oder den „Ruhe(!)raum“ zu gestalten, einzurichten und diese sowie die einstündige Mittagsfreizeit zu betreuen. So soll für die Schülerinnen und Schüler eine kulturelle Umgebung geschaffen werden, in der sie sich geborgen fühlen.
In der Mittagspause füllt sich die Pausenhalle. Gegenüber dem „Offenen Atelier“ treffen vier Jungen aufeinander. Einer von ihnen ist Malik, 12. „In meiner Klasse fühle ich mich gut aufgehoben, weil wir alle zusammenhalten, selbst wenn es mal Krisen gibt“. sagt der Siebtklässler. Cem, 14, der im Rollstuhl sitzt, pflichtet ihm bei. Sie haben Lust zu toben. Malik schiebt den Rollstuhl an und rennt mit Cem von einer Ecke der Halle in die andere. Die anderen Jungen laufen im Slalom hinterher.
Sozialpädagogen machen anders Schule
Bei der Begleitung der Kinder und Jugendlichen durch den langen Schultag nehmen die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen eine Schlüsselrolle ein. „Der wichtigste Faktor für eine gesunde Schule sind unsere Sozialpädagogen“, sagt Thiele. Sie bringen über 100 Stunden ein. Finanziert werden die Stellen aus dem Ganztagsschulbudget des Landes Bremen. Eine Richtungsentscheidung, denn die Mittel hätte die Oberschule auch für mehr Lehrerstunden, mehr Förderung und Unterricht einsetzen können. Die Personalpolitik ist Ausdruck eines Schulprogramms, das von der Idee einer „humanen und demokratischen Schule“ geleitet ist.
„Für die Mehrheit unserer Schüler ist die ganztägige Unterstützung sehr wichtig“, so Schulleiterin Irene Wiegmann-Kellner. Das sagt sie vor dem Hintergrund, dass im Umfeld der Schule viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund wohnen – in der JBA liegt ihr Anteil bei rund 50 Prozent. Aus sozialen und kulturellen Gründen lassen sich gerade Kinder aus einkommensschwächeren Familien seltener in Musikschulen oder Sportvereinen blicken. Doch in den Arbeitsgemeinschaften der JBA kommen sie in Kontakt mit organisiertem Sport, mit Kunst und Musik – und finden Spaß daran. „Wir wollen Chancengleichheit schaffen, und das gelingt am besten mit der Ganztagsschule“, sagt Wiegmann-Kellner.
Balance zwischen Anpassung und Selbstentfaltung
Das „Soziale Lernen“ als Unterrichtsfach von 9:50 Uhr bis 11:20 Uhr, das für alle Fünftklässler verpflichtend ist, ist ein wesentliches Element der Ganztagsschule: Selbst- und Fremdwahrnehmung, Vertrauen, Kooperation, Konzentration, Kommunikation stehen in dieser Zeit auf dem Stundenplan. Es geht hier nicht um rein kognitive Wissensverarbeitung, sondern um Erlebnisse, die „unbewusste Lernprozesse“ in Gang setzen. Die Sozialpädagoginnen und -pädagogen arbeiten dabei immer zu zweit mit Gruppenspielen, Entspannungstechniken, Fantasiereisen. „Wir beginnen mit einer Befindlichkeitsrunde, dabei sollen die Kinder ausdrücklich von schönen Erlebnissen sprechen, die sie seit der letzten Stunde hatten“, erläutert Hinney.
Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sich ständig daneben benehmen, den Unterricht stören oder Regeln brechen, betreuen Sozialpädagoginnen und -pädagogen sowie Lehrer und Lehrerinnen im „Sozialen Trainingsraum“ oder in der „Sozial-AG“. In letzterer sollen sie Tätigkeiten verrichten, die für die Schulgemeinschaft nützlich sind, beispielweise Unkraut jäten oder Fenster putzen. „Das ist eine große Entlastung fürs lehrende Personal“, erklärt der Ganztagsschulkoordinator. Das soziale Lernen in verschiedenen Zusammenhängen hilft den Kindern, die Balance zwischen den schulischen Anforderungen und individueller Selbstentfaltung zu finden.
Mit Wirkung: aktive Pausen und Schülerfirma
Um das demokratische Element tiefer zu verankern, nimmt sich die Oberschule Julius-Brecht-Allee vor, Kinder und Jugendliche mehr bei der Gestaltung des Schullebens zu beteiligen. „Wir spüren, dass sie es wollen“, erklärt Thiele. Den Rahmen bildet das Projekt „Mit psychischer Gesundheit Ganztagsschule entwickeln“. Hierzu wird der Schülerrat, also die Schülervertretung, eingebunden. Bei regelmäßigen Treffen mit dem Schülerrat will Thiele herausfinden, welche Freizeitangebote und Veränderungen sich die Kinder wünschen.
Die Schulleitung nimmt sich vor, die beiden kürzeren Pausen (15 und 20 Minuten) in „aktive Pausen“ mit mehr Spiel und Sport zu verwandeln. Auch an die Gründung einer Schülerfirma wird laut Thiele gedacht: „Was sie dort erwirtschaften, können sie für sich selbst einsetzen.“ Das soll die Übernahme von Verantwortung und das Zugehörigkeitsgefühl zur Schule erhöhen.