Die Wilhelm-Olbers-Schule in Bremen

Multiprofessionelle Teams unterstützen Schülerinnen und Schüler der Wilhelm-Olbers-Schule in Bremen, ihr Leben zu bewältigen – ohne dabei die Gesundheit aus den Augen zu verlieren. Neuerdings erforscht die Schülervertretung in Eigenregie die Rahmenbedingungen für Gesundheit an ihrer Schule. 

Die Wilhelm-Olbers-Schule in Bremen liegt in einem sozialen Brennpunkt, dem Ortsteil Hemelingen. „Einige unserer Kinder kommen aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien“, sagt die 40-jährige Sozialpädagogin Nicole Tödter. Doch auch wer der Mittelschicht angehört, ist nicht gleich sorgenfrei. „Bildungsnahe Familien setzen sich unter Druck, ihre Kinder möglichst hoch zu qualifizieren “, ergänzt Carl Böhm, Koordinator für Berufsorientierung. Das heißt konkret, viele Erziehungsberechtigte wollen, dass ihre Kinder im Gymnasialzweig verbleiben, selbst wenn sie noch nicht das Potenzial dafür haben.

Trotz eines erwiesenermaßen guten Schulklimas vermelden Schülerinnen und Schüler infolge der Verkürzung der gymnasialen Oberstufe von neun auf acht Jahre steigenden Leistungsdruck. Die Lehrkräfte wiederum fühlen sich laut Böhm ständig stark gefordert, weil das Land Bremen knappe Ressourcen für seine Schulen hat und das Kollegium sich ständig neuen Eingriffen von Seiten der Schulverwaltung ausgesetzt sieht. 

Entlastende Ganztagsschule

Um die Kinder und Jugendlichen sowie das schulische Personal zu entlasten, hat die Schulleitung vor mehreren Jahren die Ganztagsschule eingeführt. Heute stellen sich fünf Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen (SPADS) der Herausforderung, die Oberschule in eine wohltuende Lebenswelt zu verwandeln. Die SPADS lassen sich bei ihrer Arbeit von der Erkenntnis leiten: Geht es den Kindern und Jugendlichen gut, so wirkt sich das auch auf das Personal der Oberschule aus. „Wir wollen einen Paradigmenwechsel einläuten, hin zu einer Schule, die noch stärker den Bedürfnissen von Schülerinnen und Schülern gerecht wird“, erklärt Tödter.

Elemente des Ganztagsschulkonzepts, wie etwa soziales Lernen, das Prinzip der Verantwortungsübernahme und den Trainingsraum, haben die Akteure allmählich entwickelt. Die SPADS schaffen Gelegenheiten und Räume, damit sich die Kinder und Jugendlichen jenseits des Leistungsdrucks entfalten können.

Einer dieser Lebensräume ist die „Oase“. Der Mehrzweckraum öffnet mehrmals am Tag und wird von zwei SPADS betreut. Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen können den Raum schon ab 7:30 Uhr nutzen. Zwischen den Unterrichtsstunden beschäftigen sie sich mit Gesellschaftsspielen, lesen Zeitschriften, erledigen Hausaufgaben, treffen Freunde oder plaudern mit SPADS. Nur um die Mittagszeit herum ist die Oase als geschützter Raum für Fünftklässlerinnen und Fünftklässler reserviert. Jeden Tag ist eine andere Klasse dran.

Sozialpädagoge Ralf Weigelt ist in ein Gespräch mit einer Schülerin vertieft. Das Klima in der Oase scheint Freundschaften zu begünstigen: „Ich gehe gerne hier hin, weil man sich in Ruhe unterhalten kann“, sagt die zwölfjährige Ravina aus Sri Lanka. Sie hat Mitschülerin Tabega in der Oase kennen gelernt. „Wir reden über unsere Kultur und Sprache: Tamilisch. Mein Vater hat mir die Sprache ja leider nicht beigebracht.“

 

Stufen des sozialen Lernens

Gelegenheiten für soziales Lernen hat es in der Wilhelm-Olbers-Schule immer schon gegeben: in Pausen, in Projekten, im Unterricht. Doch mit der Ganztagsschule haben sich die Rahmenbedingungen dafür stetig verbessert. In der fünften Klasse konzentrieren sich die SPADS auf die Beziehungen der Schülerinnen und Schüler untereinander. Sie vermitteln Spielregeln des Miteinanders und unterstützen die Kinder dabei, ihren Platz in der Gruppe zu finden.

In der sechsten Klasse arbeiten die Kinder themenzentriert. Die SPADS geben den Kindern nun Gelegenheit, aus vier Kursen zu wählen, die unterschiedlich hohe handwerkliche, kreative oder organisatorische Anforderungen stellen: 1. Holzwerkstatt, 2. Entspannung, 3. Jonglieren und 4. Eventfactory. Diese Kurse finden am Nachmittag statt. Nicole Tödters Eventfactory verbindet Ernst mit Spaß, Bewegung mit Schauspiel, Körper mit Ästhetik. Hier lernen die Kinder, Veranstaltungen wie beispielsweise Diskos, Schminkpartys und Sketchabende zu organisieren. „Bei Eventfactory wird fair darüber abgestimmt, was wir machen“, sagt die elfjährige Amina. „Wir lachen sehr oft“, ergänzt die gleichaltrige Ewin.

Von der siebten Jahrgangsstufe an werden Mädchen und Jungen in sozialer Hinsicht als einigermaßen „flügge“ angesehen. Soziales Lernen als Unterrichtsfach steht für sie nicht mehr auf dem Stundenplan. Die Jugendlichen betreiben nun einen eigenen Pausentreffpunkt, lassen sich zu Streitschlichtern ausbilden, singen im Chor oder sind als Schulsanitäter im Dienst. Ab sofort findet soziales Lernen seinen Platz in Peer-Groups.

Warum der Trainingsraum kein Ort der Sanktionen ist

Seit 2004 gibt es an der Wilhelm-Olbers-Schule einen Trainingsraum. Auffällige Schülerinnen und Schüler entwickeln hier mit Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen Verhaltensstrategien, um dem Unterricht so zu folgen, wie es die jeweilige Lehrkraft erwartet. Die SPADS bilden zusammen mit Lehrkräften ein für diese Aufgabe geschultes Team. Sie geben den Schülerinnen und Schülern, die häufig Regeln verletzen, eine Auszeit. Früher galt die Regelung, dass Lehrkräfte auffällige Jungen oder Mädchen nach dem dritten Aufenthalt im Trainingsraum bei den Eltern meldeten. Dies führte nicht selten zu Hausarrest. Und die Erfahrung zeigte, dass der Aufenthalt das Klassenklima nicht verbesserte und die Beziehung zu den Pädagogen beschädigte.

Heute ist der Trainingsraum ein „Gesprächsangebot“ und straffreie Zone. „Niemand wird hier gezwungen, Fehler einzusehen. Wir unterstützen Kinder und Jugendliche, auch Kritik an ihrem Lehrer so zu formulieren, dass er sie annehmen kann“, erklärt Nicole Tödter. Das ist eine Art des „Empowerments“, also die Befähigung von jungen Menschen, ihre Bedürfnisse und Belange wahrzunehmen und das eigene Leben gestalten zu lernen. Heute brauchen Lehrkräfte keine Skrupel mehr zu haben, ihre Kids in den Trainingsraum zu schicken. Und den Sozialpädagogen bleibt die besondere Beziehung zu den Kindern erhalten. Neuntklässler Keanu Sackmann, 14 Jahre alt und Mitglied der Schülervertretung (SV), hat einmal Bekanntschaft mit dem Raum gemacht: „Ich habe im Unterricht oft dazwischen geplappert und gestört. Im Trainingsraum habe ich geschildert, was ich gemacht habe. Ich fand es gut, dass die Sozialpädagogin mir dabei geholfen hat, eine Lösung zu finden.“

 

Die Gesundheitsforscher

Am Projekt „Gut geht’s! Mit psychischer Gesundheit Ganztagsschule entwickeln“ beteiligt sich die Bremer Schule mit einer Umfrage der SV seit Oktober 2011. Die SPADS versprechen sich von der Schülerumfrage mehr Partizipation und einen Schub hin zu einer kindgerechteren Schule. Für die Umfrage erforschen die SV-Mitglieder Faktoren ihrer Schule wie Ernährung, Räume, Bewegungsangebote und Arbeitsgemeinschaften – alles, was für ihre Gesundheit bedeutsam ist.

Keanu denkt dabei an originelle Angebote, die es in der Schule noch nicht gibt, beispielsweise an „Schüler lernen von Schülern“. Der SV steht der Gesundheitszirkel der Wilhelm-Olbers-Schule zur Seite, ein Gremium, das sich  aus Lehrkräften, Sozialpädagogen, SV und Eltern zusammensetzt. Der Gesundheitszirkel existiert seit 2009 und untersuchte beispielsweise Auswirkungen des Schulbetriebs auf die Gesundheit des Personals leitete präventive und interventive Maßnahmen ab und dient grundsätzlich als Koordinierungsgruppe für Gesundheitsförderung im Schulbetrieb und der Schulentwicklung.

 

Schulart

: Schulzentrum der Sekundarstufe. Seit dem Schuljahr 2011/2012 Oberschule in der fünften Jahrgangsstufe. An dem Schulzentrum kann man den Haupt- und Realschulabschluss sowie das Abitur nach 12 oder 13 Jahren erwerben.

Schülerzahl: ca. 1060, davon ca. 400 im Ganztag

Profil der Schule: naturwissenschaftlicher und sportlicher Schwerpunkt, Arbeits- und Berufsorientierung

Teamzusammensetzung: Jahrgangsteams und Hausteams

Ganztagsschulausprägung: teilgebundene Ganztagsschule

Kooperationspartner: ca. 70

 

Datum: 1.11.2012

Arnd Zickgraf/DKJS