„Deutschland auf dem Weg zur Bildungsrepublik“

 

 

Es gilt das gesprochene Wort!
 
I.
Von Hartmut von Hentig, Doyen der Pädagogik in Deutschland seit Jahrzehnten, stammt der Satz: „Die wichtigste Erfahrung im Leben eines Jugendlichen ist es, gebraucht zu werden.“ Diesen Satz hat Hartmut von Hentig im Kontext von Schule und Bildung formuliert. Erziehung zur Demokratie und Erziehung zur Partizipation setzen die Erfahrung voraus, dass Kinder und Jugendliche das Interesse der Alten an ihnen und ihren Lebenswelten erleben. Sie müssen spüren, dass sie gebraucht werden. Vor Hartmut von Hentig hat schon Friedrich Schleiermacher davon gesprochen, dass das Herzstück im Verhältnis der Generationen das Interesse aneinander ist. Auf dem Weg zur Bildungsrepublik müssen wir genau das stärken: das Interesse der Generationen aneinander und das Interesse der vielen Akteure in der Schule und in ihrem Umfeld an jenen Menschen, die dort leben, lernen und arbeiten.

Deshalb passt das Thema des 5. Ganztagesschulkongresses sehr gut zu den Entwicklungen, über die wir derzeit beraten. Das sind Entwicklungen, die die Lernkultur betreffen, die Qualität von Schule und das Bemühen um eine noch bessere Verbindung zwischen den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen und der Welt der Schule.

Wir wissen längst, dass Schulen ihre eigenen Biografien schreiben. Keine Schule ist wie die andere. Das, was wir an Vergleichbarkeit etwa bei den Bildungsstandards brauchen, führt nicht zur Uniformität von Schulen. Wir akzeptieren in Deutschland, dass jede Schule ihren eigenen Weg geht. Und wir akzeptieren, dass wir Bildungsstandards für 16 Länder haben. Was in den nächsten Jahren auf dem Weg in die Bildungsrepublik notwendig ist, sind Dienstleistungen und Netzwerke, die Schulen so begleiten, dass sie ihre Biografie überzeugend schreiben können. Dazu gehört, dass Lehrer dies nicht allein tun, sondern alle Akteure ihre Verantwortung wahrnehmen. Dazu gehört auch, dass die Schule von ihrem Umfeld nicht allein gelassen wird. Wir brauchen vielmehr Netzwerke, wie sie jetzt an vielen Orte entstehen. In den Lernenden Regionen etwa treten alle Bildungsinstitutionen vor Ort in einen stärkeren Kontakt miteinander, tauschen sich aus und vernetzen sich.

II.
Betrachtet man das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) in seinen drei Teilen – Bauen, Begleiten, Bewerten – lässt sich folgendes feststellen: Beim Bauen ist bereits viel erreicht. Zum ersten Ganztagesschulkongress 2004 gab es rund tausend Ganztagesschulen in Deutschland, die mit IZBB-Mitteln gefördert wurden. Jetzt, zum Zeitpunkt des 5. Ganztagesschulkongresses, sind es rund 7.000. Jede fünfte allgemeinbildende Schule hat heute die Infrastruktur und ein entsprechendes pädagogisches Konzept als Ganztagesschule.

Begleiten heißt: Das Konzept muss im Blick auf die Interessen der Schülerinnen und Schüler stimmig sein. Und im Blick auf die verschiedenen und oft widerstreitenden Erwartungen an Schule muss die Akzeptanz stimmen. Jeder vor Ort weiß, wie oft es sehr verschiedene Ansichten in der Elternschaft, in der Schülerschaft, vielleicht auch im kommunalen Leben der Gemeinde oder der Stadt im Hinblick auf die Gestaltung von Schulen gibt. Deshalb halte ich die Regionalen Serviceagenturen „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung in den Ländern für hervorragende Partner der Schulen. Sie haben eine außerordentlich gute Arbeit geleistet. Ich setze mich deshalb dafür ein, dass diese pädagogische Begleitung der Schulen, die sich schon auf den Weg gemacht haben, und auch jener, die sich noch auf den Weg machen möchten, über das Jahr 2009 hinaus erhalten bleibt.

Wir wissen, dass Schule mehr ist als die Aneinanderreihung von Schulstunden. Schule entwickelt sich immer stärker zu einem relevanten Teil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Wir vertrauen den Schulen, dass sie diesen Weg der inneren Schulentwicklung gut gehen. Und wir sind davon überzeugt, dass es zur öffentlichen Verantwortung gehört, sie dabei bestmöglich zu unterstützen. Dass es Institutionen wie die Kinder- und Jugendstiftung gibt, geht immer auf das Engagement einzelner zurück. Rita Süssmuth hat als Präsidentin des Deutschen Bundestages und als Familienministerin die Idee zu einer solchen Stiftung gehabt, für die sie nun schon seit 1994 arbeitet. Ich danke ihr sehr für diese hervorragende Initiative, die für unser Ganztagesschulprogramm ein wichtiger Partner ist.

Der dritte Aspekt nach dem Bauen und Begleiten ist das Bewerten. Dafür haben wir mit der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ eine Längsschnittstudie in Auftrag gegeben. Die Prozesse der Schulentwicklung, die im Kontext des Programms möglich sind oder bereits in Angriff genommen werden, interessieren uns auch im Blick auf die generelle Weiterentwicklung des Bildungssystems in Deutschland: Welche Erfahrungen werden vor Ort gemacht? Welche Partner bieten sich an? Die Schule der Zukunft wird nicht nur Lehrer und Lehrerinnen kennen. Das wissen wir aus anderen Ländern, speziell aus den skandinavischen Ländern. Wie geht die Entwicklung der Grundschule weiter? Grundschulen sind in unserem Programm besonders stark vertreten. Wie gehen wir mit dem Zusammenhang von Grundschule und frühkindlicher Bildung um? Mittlerweile haben in Deutschland alle begriffen, wie wichtig die Zeit vor der Schule ist. Was können wir lernen aus den Erfahrungen, die es in den verschiedenen Formen der Kooperation in den Ländern gibt? Wann ist dabei die Akzeptanz der Schülerinnen und Schüler besonders hoch? Aus der differenzierten Bewertung bereits gewonnener Erfahrungen werden wir Impulse für die weitere Gestaltung von Ganztagesschulen gewinnen.

III.
Die Mehrheit der Ganztagesschulen muss ein freiwilliges Angebot an Kinder, Jugendliche und Eltern sein. Das wird vielen helfen zu akzeptieren, dass Schule vielleicht doch mehr Zeit braucht als bislang. Wir müssen uns beschäftigen mit den Bedingungen dafür, dass Kinder und Jugendliche am Nachmittag nicht nur betreut werden, sondern echte Bildungsangebote bekommen. Welche interessanten Beispiele gibt es in Deutschland und international für einen anderen, neuen Umgang mit der Zeit? Wo ist die 45-Minuten-Stunde längst abgeschafft? In dieser Hinsicht sind das Ganztagesschulprogramm und seine wissenschaftliche Begleitung auch eine Quelle für empirische Erkenntnis und Erfahrungen, die für diejenigen wichtig ist, die in den Ländern Verantwortung für die Weiterentwicklung von Schule tragen.

Das Thema Partizipation wird auf diesem Kongress eine herausragende Rolle spielen. Am Ende entscheidet sich der Erfolg daran, ob die Herzen der Schüler und Schülerinnen erreicht sind. Entscheidend ist, das Lehrerinnen und Lehrer in unseren Schulen wieder das Gefühl haben, in dieser Gesellschaft akzeptiert und in ihrer Autorität anerkannt zu werden. Der Erfolg gelingender Bildung hängt davon ab, ob diejenigen, die in Schulen lehren und lernen, die für Schule Verantwortung tragen, Interesse aneinander haben. Sie müssen spüren, dass das, was sie tun, ernst genommen wird und der Weg in die Bildungsrepublik in ihren Schulen Wirklichkeit wird.

Vielen Dank!

Datum: 15.01.2009
© www.ganztaegig-lernen.de