Sozialpolitische Argumente und Begründungen für eine Ausweitung der Angebote mit ganztägiger Schulorganisation

Die  in  der  seit  einigen  Jahren  wieder  stärker werdenden  Diskussion um ganztägige  schulische  Angebote  aktuell  angeführten  Begründungen  und  Begründungsmuster für eine Ausweitung ganztägiger Betreuungsangebote im allgemeinbildenden Schulwesen sind im Großen und Ganzen nicht neu, sondern bereits mindestens seit dem Ende des 2. Weltkrieges bekannt. Viele der aktuellen Argumentationslinien lassen sich sogar bereits seit hundert Jahren nachweisen (vgl. Ludwig 1993).

Allerdings unterlagen die Argumente im Zeitverlauf hinsichtlich ihrer Gewichtung und Bedeutung  für die  gesamte  Argumentation  einer  stetigen  Veränderung.  Aufgrund sich ändernder gesellschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen erhielten einzelne Argumente neue Aspekte bzw. zusätzliches Gewicht oder wurden in ihrer Bedeutung abgestuft. So lässt sich beispielsweise feststellen, dass noch vor der Veröffentlichung der PISA 2000 – Studie bildungspolitische Argumente eher als „positiver Randeffekt“  angeführt wurden.  Nach Bekanntwerden  der  Ergebnisse  und  dem darauffolgenden  „PISA-Schock“  rückt  nun  diese  Gruppe  von  Begründungen,  erweitert um den Aspekt des internationalen Vergleichs, zunehmend in den Vordergrund. Im weiteren Verlauf des Beitrags sollen die wichtigsten Argumente zusammengetragen und erläutert werden.

Sozialpolitische Argumente und Begründungen für eine ganztägige Schulorganisation

 

Im Zuge der Diskussion der letzten Jahre wurden – wie bereits angedeutet – weniger bildungspolitische als vielmehr sozial- und arbeitsmarktpolitische Argumente zur Begründung  eines Ausbaus ganztägiger schulischer  Betreuungsformen angeführt  (vgl. Holtappels 1994, Holtappels 1995, Witting 1997). Dies zeigt sich im politischen Sektor unter anderem in vielen Pressemitteilungen und Informationen der zuständigen Ministerien zum Thema (vgl. etwa die jeweiligen Internet-Auftritte).  Als  zentraler  Ausgangspunkt  für  eine  sozialpolitische  Argumentation  dient  zumeist der Verweis auf den tiefgreifenden Wandel der Institution Familie. Die Familie, bestehend  aus  einem  erwerbstätigen  Vater,  einer Mutter  als  Hausfrau  und  zwei  oder mehr Kindern in schulpflichtigem Alter ist nicht mehr vorherrschendes Modell familialer Gegenwart. (Witting 1997). Durch die steigende Erwerbstätigkeit der Mütter (so sind laut Mikrozensus 1999 57,8 % der Mütter in Zwei-Eltern-Familien und 58,2 % der alleinerziehenden Mütter erwerbstätig) ergeben sich hinsichtlich der Betreuung von Kindern  im schulpflichtigen Alter während der Arbeitszeit  zunehmend Konflikte, die eine  Vereinbarung von Familie und Beruf erschweren.

Eine  Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin ergab, dass durch ein umfassendes  Betreuungsangebot  von  Kindern  diese  Disparitäten  erheblich  ausgeglichen  werden könnten.  So  konnte beispielsweise  ein Zusammenhang zwischen  der  Intensität  der Kinderbetreuung  und  der  Erwerbsbeteiligung  von  Müttern  nachgewiesen  werden. Aber  nicht  nur  die  tatsächliche  Beteiligung  am  Erwerbsleben,  sondern  auch  der Wunsch,  eine  Erwerbstätigkeit  aufzunehmen,  steigt  offensichtlich  mit  der  Intensität der Kinderbetreuung (vgl. Büchel, Spieß 2002).

 

Ein  weiterer  Aspekt  des Wandels  des  Familienbildes  ist  die  steigende  Anzahl  von Ein-Eltern-Familien. Laut Mikrozensus 1999 sind mittlerweile 22,7 % der Familien mit Kindern Ein-Eltern-Teil-Familien.  19,2 % der Kinder wachsen in diesen Familienformen auf. Besonders diese Familien sind für eine Erwerbstätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts auf eine geregelte Unterbringung der Kinder während der Arbeitszeit angewiesen.  Alternativen zu  einer  ganztägigen  Betreuung  in  der  Schule wären entweder unbeaufsichtigte Zeiten für die Kinder bzw. kostenpflichtige Angebote des privaten  Marktes  oder  aber  die  Aufgabe  des  Berufes  und  die  daraus  resultierende Inanspruchnahme von Sozialtransferleistungen (Arbeitslosengeld, Sozialhilfe usw.). Eine solche Argumentation  impliziert  allerdings  nicht per  se  ein ganztägiges schuli-
sches Angebot im Sinne einer „echten“ Ganztagsschule. Vielmehr würde eine reine organisierte „Beaufsichtigung“ oder „Verwahrung“ der Schüler am Nachmittag – ob in der Schule oder außerhalb – diesen Ansprüchen genügen. Weitergehende Argumentationen  in  dieser  Richtung  fordern  neben  einer  reinen  Beaufsichtigung  noch  eine Verlagerung der schulbezogenen Elterntätigkeiten (Hausaufgabenbetreuung, häusliche Nachhilfe usw.) in die Nachmittagsbetreuung, so dass alle schulbezogenen Aktivitäten  an  den  Ort  ihres  Entstehens verlagert  und  die  Elternhäuser  diesbezüglich entlastet werden würden. Aber auch dies wäre mit einer pädagogisch organisierten Nachmittagsbetreuung  an  Halbtagsschulen  (oder  anderen  Institutionen)  erreichbar und impliziert noch keine Argumentation für ein „echtes“ schulisches Ganztagsangebot.

Auf der veränderten Familienzusammensetzung basiert noch ein drittes komplexeres Argument.  Angesichts  sinkender  Geburtszahlen  und  dadurch  bedingter  Folgeprobleme wie  niedrigen  Kinderzahlen  in  den  Familien  (laut  Mikrozensus  1999 wachsen 30,5 % der Kinder als Einzelkinder auf), sinkenden Kinderzahlen in der unmittelbaren Wohnnachbarschaft usw. haben Kinder – besonders in städtischen Wohnumfeldern – zunehmend  nur  geringe Möglichkeiten,  mit Geschwistern  oder  auch  Gleichaltrigen jene  Form  kindzentrierter  Kommunikation  und  Interaktion  zu  erleben,  die  eine  notwendige Voraussetzung  für  die Entwicklung von Solidarität  in der Gruppe  der  Gleichen  darstellt?  (Bundesministerium  für  Jugend,  Familie,  Frauen  und  Gesundheit, 1990,  zitiert  nach  Ludwig  1993).  Diese  fehlenden  Kontaktmöglichkeiten  mit anderen Kindern werden durch für freies Spielen zunehmend ungeeignete Wohnumfelder verstärkt (vgl. Ludwig 1993) Stetig steigender Verkehr in den Städten und immer weniger ungenutzte Flächen verdrängen die Spielaktivitäten entweder auf reglementierte Flächen (Spielplätze, Sportplätze etc.) oder aber in die Wohnungen, die in der heute üblichen Form Kindern nur geringe unmittelbare Erfahrungs- und Betätigungsmöglichkeiten  bieten  (vgl.  Colberg-Schrader  1989)  (Ludwig  1993).  Aus  dieser  Entwicklung wird  die  Forderung  an  die  Schule  abgeleitet,  einerseits angesichts  zunehmend  flexibler  und  vielfältiger werdender  Familienformen  erzieherisch kompensatorische Aufgaben zu übernehmen und andererseits ein Ort zu sein, an dem die Schüler über den Unterricht hinaus Kontakte mit anderen Kindern knüpfen können, um die ansonsten mangelhafte oder ganz fehlende Sozialisation im Umgang  mit  anderen  Kindern  sicherzustellen. Dies  stellt  erhebliche  Ansprüche  an  die Schule hinsichtlich ihrer pädagogischen Ausgestaltung. Der Erziehungsauftrag – laut Grundgesetz  eigentlich  zuförderst  Aufgabe  der  Familien  (vgl.  Art.  6  Abs.  2  GG)  – würde in den Schulen mehr in den Blickpunkt rücken. 

von Dipl. päd. Falk Radisch und Prof. Dr. Eckhard Klieme

Quelle:
Wirkung ganztägiger Schulorganisation, Bilanzierung der Forschungslage Literaturbericht im Rahmen von „Bildung Plus“

zurück zur Startseite

Zusammengestellt: Sabine Schweder
Datum: 23.12.2005
© www.ganztaegig-lernen.de