Jenaplan – „Lernen ist immer Beziehungssache“

 

 

„Lernen ist immer Beziehungssache“, behauptet Erika Carius, Schulleiterin der Christoph-Martin-Wieland-Grundschule in Weimar. Das konnten Teilnehmer der Exkursion zu zwei Jenaplan-Schulen in Thüringen überprüfen, zu der die Serviceagenturen „Ganztägig lernen“ aus Berlin und Brandenburg eingeladen hatten. Dabei haben die Besucher viele Fragen gestellt, nachgehakt, bewundert, gezweifelt und diskutiert.

Eindrücke von einer Exkursion an zwei Thüringer Ganztags- und Jenaplan-Schulen – geschildert von von Katharina Kleinschmidt

Getrennte Pfade, gemeinsames Ziel

Mit auf die Reise gekommen waren neben Schulaufsichten auch Ganztagsschulberater/-innen, – multiplikatoren/-innen und – praktiker aus Berlin und Brandenburg. Das Ziel der beiden Serviceagenturen war, die Gruppe untereinander zu vernetzen und die Übertragbarkeit von Bausteinen der Jenaplan-Pädagogik auf die heimischen Ganztagsschulen zu überprüfen. Trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen in den Ländern sollte auf dieser Reise ein fachliches Thema in den Vordergrund rücken, das Akteure in allen Bundesländern gleichermaßen bewegt. Methoden der individuellen Förderung kennenzulernen und erlebbar zu machen, war für die veranstaltenden Serviceagenturen daher Hauptintention der gemeinsamen Exkursion.

Das Erleben der Jenaplan-Pädagogik vor Ort, ihr Spiegeln an der eigenen Schulrealität und die Diskussionen mit den Thüringer Kolleginnen und Kollegen bieten laut Charlotte von Wangenheim von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ aus Berlin den Anlass zu „Erfahrungsaustausch gelebter Ganztagsschulpraxis über Ländergrenzen hinweg“. Bettina Böttche von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ aus Brandenburg ergänzt: „Das ist eine ideale Gelegenheit, die Perspektive und Wahrnehmung zu erweitern und neue Sichtweisen zu gewinnen“. Die rund 40-köpfige Gruppe wurde halbiert, wobei jeder Teil paritätisch aus Berlinern und Brandenburgern bestand und jeweils eine Schule besuchte. Am Abend fand man sich dann im Hotel zum Gespräch wieder zusammen. Schnell zeigte sich, dass der Informationsbedarf der Teilnehmer auf verschiedenen Ebenen lag. Während sich einige für die Strukturen und „Logistik“ einer Jenaplan-Schule interessierten, wollten andere mehr über das pädagogische Konzept und seine Umsetzung erfahren.

Der Jenaplan in Thüringen

Die Jenaplan-Schule Jena und die Christoph-Martin-Wieland-Grundschule in Weimar unterrichten nach dem gleichen reformpädagogischen Ansatz, gehen aber in strukturellen und organisatorischen Fragen unterschiedliche Wege.

Die Wielandschule entlässt ihre Kinder nach vier Jahren in weiterführenden Schulen, die Jenaplan-Schule Jena hingegen kann Schüler bis zum Abitur führen. Grundprinzip ist jeweils der jahrgangsübergreifende Stammgruppenunterricht, der Kursunterricht, die Ritualisierung und Rhythmisierung des Tagesablaufes und der Aufbau des Schulalltags auf den Säulen Arbeiten, Feiern und Spielen. „Es gibt keine fertige Jenaplan-Schule“, sagt Britta Müller, Lehrerin an der Jenaplan-Schule Jena und Vorsitzende des Arbeitskreises Jenaplan-Pädagogik e.V. „Jede entwickelt sich so, wie es ihre Schüler und Lehrer gemeinsam schaffen“. Als Grundschule fasst die Wielandschule Weimar die Klassen 1 bis 4 in Stammgruppen zusammen, in Jena werden der 1. bis 3. Jahrgang und der 4. bis 6. Jahrganggemeinsam unterrichtet. Auch in höheren Klassen können dort in einzelnen Fächern Schüler aus mehreren Jahrgängen zusammen lernen. Ziel ist, in den Stammgruppen Parität zwischen den Jahrgängen zu erreichen. Durch die veränderte Schuleingangsphase und Wiederholer kann dies geringfügig schwanken. In Jena wird der Thüringer Lehrplan in den Stammgruppen auf drei Jahreverteilt, so durchläuft jedes Kind den gesamten Turnus. Die Reihenfolge ist abhängig vom Zeitpunkt des Eintritts in die Stammgruppe.

Die Nachfrage nach dem Jenaplan ist in beiden Städten groß: Die Schulen können dem Ansturm der Kinder kaum gerecht werden, jedes Jahr werden bei Weitem nicht alle Aufnahmewünsche erfüllt.

Selbstverantwortliches Lernen

 

„Wir wollen unsere Kinder erziehen, dass sie selbstverantwortlich lernen. Das beginnt damit, dass sie sich eigene Lernziele setzen und sich dann an diesen Lernzielen messen, natürlich gespiegelt durch die Lehrkraft“, sagt Erika Carius.

Aus der staatlichen Stundentafel werden bestimmte Stunden herausgenommen, die altersgemischt unterrichtet werden. Welche Fächer und Stunden in welchem Umfang in den Stammgruppenunterricht einfließen, variiert von Schule zu Schule. Alle Jahrgänge arbeiten miteinander an einem Thema und jedes Kind bringt sich seiner Fähigkeit nach ein. Die Themen der Wochenpläne sind festgelegt, die Ausgestaltung liegt in der Verantwortung der Lehrer/-innen. Hier findet die Individualisierung auch auf Ebene der Pädagogen statt. Diese verständigen sich auf Standards, aber jeder arbeitet nach seinem eigenen Konzept und seinem Methodenrepertoire. Kathrin Witte, Stammgruppenlehrerin der Delfine in Weimar, grenzt sich zum Beispiel nur wenig ein: „Je genauer und je enger man eine Aufgabenstellung vorbereitet und formuliert, desto schwieriger wird es, einzelne Kinder dort abzuholen, wo sie gerade stehen“.

Voneinander lernen

Am Freitagmorgen präsentieren die Delfine, eine Jenaer Stammgruppe der Jahrgänge 4 bis 6, ihre Arbeitsergebnisse des aktuellen Projektes „Nachwachsende Rohstoffe“. In Gruppen von drei oder vier Schülern, in denen mindestens ein Kind aus jedem Jahrgang vertreten ist, stellen sie ihre Arbeitsergebnisse zu den Themen Holz, Hanf, Papyrus und Kork vor. Diese Präsentationen charakterisieren das Prinzip des Jenaplans. Den Großen fällt die Aufgabe zu, die Kleineren zu integrieren und auf gleichmäßige Arbeitsverteilung zu achten. Die Kleineren werden „angelernt“, um dann in den nächsten Jahren die Rolle der Älteren zu übernehmen. Lernen ist hier Beziehungssache. Ritualisiert ist die Kritik danach: Die Kinder beurteilen die Vorträge, inhaltlich wie formal. Dazu gehören auch Kriterien wie Häufigkeit des Blickkontaktes, Körperhaltung und Lautstärke des Vortrages. Die Beurteilung lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, ist dennoch immerkonstruktiv und nie verletzend. Offensichtlich haben die Kinder Respekt vor der Leistung der anderen, denn jeder weiß, wie es ist, da vorne zu stehen. So ist auch zu verstehen, wie gut die Kinder mit dieser Kritik umgehen können. „Hier erhalten die Kinder Kompetenzen, die sie ein Leben lang nützen können“, stellt ein Berliner Besucher fest. „Da werden große Ressourcen geschaffen“.

In den Jenaplan-Schulen wird gelernt, offen miteinander umzugehen, sich „in die Karten schauen zu lassen“. Entsprechend der offenen Unterrichtsformen werden auch während des Unterrichtes die Klassentüren nicht geschlossen.

Die Eltern in der Jenaplan-Schule

Das dialogische Lernen im Jenaplan wird von Lehrkräften und Eltern gemeinsam getragen. Entsprechend viel investieren die Schulen in Elternarbeit. In Weimar findet bereits im November der erste Informationsabend für die Eltern der zukünftigen Erstklässler statt, im Mai und Juni folgen weitere Veranstaltungen. Stammtische werden in der Schulzeit monatlich auf Stammgruppenbasis durchgeführt.

Dort finden sich auch die Eltern aufgrund des Rotationsprinzips in wechselnden Gruppen wieder, wodurch sie wie ihre Kinder von den Erfahrungen der „alten Hasen“ profitieren. Kurslehrer/-innen veranstalten Seminare, um Eltern auch fachliches Hintergrundwissen zu vermitteln. Zeugnisgespräche finden halbjährlich mit Kind und Eltern statt. Doch der Aufwand lohnt sich: Die Eltern sind motiviert und ihre Beteiligung am Schulleben und im Förderverein riesig. Wenn die Wielandschule eine Woche im Jahr auf Schulreise geht, wird sie von 45 bis 50 Eltern begleitet, die zum Teil dafür fünf Tage Urlaub nehmen.

Lange Tage – nicht nur für Kinder?

 

Immer wieder kehrt im Laufe der Exkursion die Frage nach der Mehrbelastung der Lehrkräfte zurück. Die Individualisierung des Unterrichtes, Elternarbeit, Zeugnisgespräche, Feiern, nötige Absprachen und andere Aktivitäten lassen den Schultag sehr lang werden. In Weimar und Jena betonen beide Kollegien das angenehme Arbeitsklima an den Schulen, das die nötige Motivation für solche Mehrarbeit liefert.

Doch nicht alle Kollegen/-innen bleiben an einer Jenaplan-Schule, vielleicht, so mutmaßt Britta Müller, waren sie einfach nicht lange genug an der Schule. „Man versteht nicht alles sofort. Erst wenn man die Kinder in ihrer Entwicklung begleitet, wächst die Zuversicht, das Richtige zu tun“. Wichtig ist, so Müller, Geduld und Stetigkeit in der pädagogischen Arbeit. Man entscheidet sich für ein Konzept und muss es weiterentwickeln. Rückschritte können zugelassen werden, wenn sich aus ihnen neue Ansätze ergeben.

Großen Stellenwert haben zwangsläufig die Absprachen der Lehrkräfte untereinander, die einen guten Teil der Mehrarbeit ausmachen. Ohne Vertrauen in die Kollegen und ohne Kommunikation und Kooperation ist Jenaplan-Unterricht nicht durchführbar. Lehren ist auch Beziehungssache. „Wir gehen in unserer Kollegiumsgruppe so miteinander um wie die Kinder in ihrer Lerngruppe. Wenn die Kinder das vorgelebt bekommen, wie es bei Erwachsenen funktioniert, dann hilft es ihnen auch“, sagt ein junger Lehrer in Jena.

Prima (Lern-)klima

Staunen und auch ein bisschen Neid beschleichen die Besucher bei dem Gang durch die Flure der Schulen: Eine fröhliche und ruhige Atmosphäre und ein freundlicher Ton bestimmen das Bild, offenbar gehen die Schüler hier sozial und selbstbewusst miteinander um. Häufig wird dies bei den Exkursionsteilnehmern thematisiert: Unterrichtspausen ohne Rempelei, eine ruhige Wochenabschlussfeier und eine Turnstunde, in der kein Kind sein Turnzeug vergessen hat, sind zu Hause nicht unbedingt Alltag.

Einhellig skizzieren die Pädagogen beider Schulen ihr Prinzip: „Man muss Vertrauen in alle Ebenen der Schule setzen, insbesondere aber in die Kinder. Und man muss gelassen bleiben – auch wenn es manchmal schwerfällt“. Gruppenregeln werden jeweils zu Schuljahresbeginn “festgeklopft“, dabei ziehen alle Kollegen an einem Strang. Wenn doch etwas passiert, wird mit konsequentem Auftreten reagiert.

Aus der Jenaplan-Pädagogik holen die Kinder ihre Souveränität. Wochenfeiern am Montagmorgen und Freitagmittag beginnen und beenden die Schulwoche. Traditionen und Aktivitäten sind fest im Schulalltag integriert. Diese Ritualisierung bietet den Kindern eine formale Struktur, die ihnen die Sicherheit verleiht.

Der Hort in den Jenaplan-Schulen

 

Die Jenaplan-Schulen Thüringen führen die Horte in der additiven Form. Die Teamarbeit zwischen Lehrkräften und Erziehern, bzw. Erzieherinnen fußt auf anderen Rahmenbedingungen als in einer Berliner oder Brandenburger Ganztagsschule. Durch die Umstrukturierung des Vormittages und die länger anwesenden Lehrer/-innen fällt dem Hort eine andere Rolle zu. In Weimar gibt es zwölf Stammgruppen, aber nur elf Erzieherinnen, die dennoch den Gruppen zugeordnet sind. Wenn der Stammgruppenunterricht so liegt, dass die Stammgruppe danach gemeinsam Mittagessen geht, nimmt die Erzieherin schon vormittags am Unterricht teil und geht dann mit der Gruppe zum Essen. Der Hort wird von den Kindern offen genutzt und von 254 der insgesamt 280 Kinder besucht. Die Hortplätze sind nicht limitiert. Am Nachmittag wählen die Kinder aus 27 Angeboten, daran können auch diejenigen teilnehmen, die nicht im Hort angemeldet sind.

Im Gepäck nach Berlin und Brandenburg

Die Teilnehmer der Exkursion nehmen viele Ideen mit nach Hause, nicht nur diejenigen, deren Schulen eine Umwandlung zum jahrgangsübergreifenden Lernen diskutieren oder bereits vollzogen haben. „Es ist immer die Frage, was man eigentlich in der individuellen Lernzeit mit den Kindern macht. Dafür können die Jenaplan-Schulen viele Anregungen geben “, findet Karen Dohle von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ in Brandenburg.

Eine Teilnehmerin aus Brandenburg stellt fest, dass das pädagogische Konzept des Jenaplans einer möglichen Beliebigkeit der Ganztagsschule entgegenwirkt und sagt, dass „projektorientiertes Arbeiten ein sinnvolles Mittel gegen Ganztagsaktionismus“ ist. Weitgehende Einigkeit herrscht unter den Besuchern, dass „man auch bereit ist, Mehrarbeit zu leisten, wenn das Konzept stimmt“. „Man braucht zwei oder drei Begeisterte, die dann den Rest mitziehen“.

Auch Kritiker des jahrgangsübergreifenden Lernens sind nachdenklich geworden. „Wenn man eine Stunde auch ohne zehnminütigen Dressurakt beginnen kann, scheint Altersmischung doch zu funktionieren“, so ein Schulleiter aus Berlin.

Thüringen macht Schule

Das volle Besuchsprogramm hat die Erwartungen der Brandenburger und Berliner Besucher in dieExkursion erfüllt. Dennoch besteht Bedarf an weiteren Informationen über die Jenaplan-Schulen, eine Vertiefung einiger Bereiche wird gewünscht. Dazu gehört auch die Frage nach inhaltlichen Aspekten der Hortarbeit. Ebenso auf den Wunschzetteln der Ganztagsaktivisten: Gelegenheit zu mehr Austausch mit den Mitfahrern, noch einmal für einen längeren Zeitraum in einer Jenaplan-Schule hospitieren und Vorträge von Jenaplan-Erfahrenen an der heimischen Schule. In Jena und Weimar ist das keine neue Situation. Neben dem Schulalltag noch der riesigen Nachfrage nach Information gerecht zu werden, erfordert großes Engagement, das die Schulen souverän meistern. Besonders Hospitationen sind sehr gefragt und allein in Jena bis Oktober 2008 ausgebucht.

 

Datum: 1.12.2007
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