Mit einem Schulnetzwerk wird ein gemeinsames Angebot für Schüler von der 1. -12. Klasse im Raum Greifswald neu geschaffen. Mit dem Schuljahr 2007/08 wechseln erstmals 24 Schülerinnen und Schüler in eine Klassengemeinschaft mit „reformpädagogischen Profil“. Auf diese Weise wird die Schulkultur der Montessori – Schule weiter getragen. Eine Gruppe von Schülern der Montessori – Schule wechselt im selben Schuljahr zur Arndt – Schule. Auch hier sollen zukünftig reformpädagogisch orientierte Klassen aufgebaut werden.
Ausstellung auf dem 4. Kongress für Ganztagsschulen in Berlin mit Anette Schavan und Joachim Jacobi (Vorsitzender der Kommission für Statistik der Kultusministerkonferenz)
„Freude ist das Indiz inneren Wachstums“, formulierte Maria Montessori, Urmutter der nach ihr benannten Pädagogik. Fast 100 Jahre ist es her, dass die Ärztin, Wissenschaftlerin und überzeugte Katholikin ihre Erziehungsprinzipien publiziert hat. Montessoris berühmter Leitsatz „Hilf mir, es selbst zu tun“ markiert ihr für die damalige Zeit umwälzendes Bild vom Kind als „Baumeister seiner selbst“. Dazu gehört auch, dem Kind mit Achtung zu begegnen und auf seine individuellen Entwicklungsbedürfnisse einzugehen. Nach den Ergebnissen der PISA-Studie sind die Regelschulen in ein schlechtes Licht gerückt. Eltern denken daher vermehrt über alternative Schulkonzepte wie Montessori oder Waldorf nach. Die Montessori-Pädagogik stellt die Freude am Lernen in den Vordergrund und leistet einen differenzierten Unterricht.
Mehr Interessenten als Plätze
In Greifswald hat zum Schuljahr 2006/2007 eine Montessori – Ganztagsschule ihre Tore geöffnet; einige der Gäste fühlten sich bei der Einweihung an die Schulhäuser in dem Film von Reinhard Kahl „Treibhäuser der Zukunft“ erinnert. Schulleiter Nils Kleemann hat diese Schule als bewussten Kontrapunkt zur Regelschule in Greifswald gegründet. Insgesamt stehen in Mecklenburg-Vorpommern drei Schulen für die Montessori-Pädagogik. Gut 600 Montessori-Kindergärten und rund 400 freie oder staatliche Montessori-Schulen existieren inzwischen in Deutschland, Schulen mit einzelnen Montessori-Klassen oder -Zweigen mitgezählt. (Focus 10/2006). Die Greifswalder Schule ist durch die IZBB-Mittel räumlich gerüstet, um den Anforderungen eines „ganzen Tages“ zu entsprechen. Zur Eröffnung als Ganztagsschule waren unter anderem gekommen: Dr. Anja Durdel von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, sie leitet das Begleitprogramm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ Und Frau Dr. Annemarie von der Groebben, die didaktische Leiterin an der Bielefelder Laborschule war und mit der sogenannten „Tabula“ auch so etwas wie eine Bildungslandschaft geprägt hat.
„in vitro“ sich den Anforderungen des Lebens stellen können
Die Greifswalder Montessori-Schule versucht nicht, die Kinder zu formen, sondern ihnen die Gelegenheit zu geben, sich zu offenbaren. Sie versteht sich als Lebensraum, wo sich die Kinder „in vitro“ den Anforderungen des Lebens stellen können, sich aber einfach auch noch entwickeln dürfen, so Frau Kuchner vom staatlichen Schulträger, der Hansestadt Greifswald. Schulleiter Kleemann spricht von „Bewährungsfeldern“, die den Kindern an seiner Schule geboten werden sollen.
Jeder Tag beginnt mit 90 Minuten Freiarbeit, dem Herzstück der Montessori-Pädagogik. Die selbst bestimmte Arbeit mit den vielfältigen, teils von Maria Montessori entwickelten Materialien ermöglicht den Kindern Lernerlebnisse, die auf Erfahrung, Anschauung und aktivem Handeln gründen. In der Wirksamkeit ihrer Prinzipien fühlen sich Montessorianer nicht zuletzt durch die PISA-Studie bestärkt. Vieles von dem, was deutsche Bildungsexperten bei ihren Reisen nach Finnland bestaunten, hätten sie auch in einer heimischen Montessori-Schule antreffen können: alters- und leistungsgemischte Klassen bis zur Oberstufe, die freie, die Projekt- und die Gruppenarbeit, das eigentätige Lernen. Statt Noten gibt es – zumeist bis zur achten Klasse – detaillierte Lernentwicklungsberichte. Die Verschiedenheit der Kinder und die daraus folgende Heterogenität von Lerngemeinschaften, die das deutsche Regelschulsystem bekämpft, indem es die frühe Trennung in drei Schularten vollzieht, empfindet man an Montessori-Schulen als Basis gelingenden Lernens. In altersgemischten Klassen werden zwei, drei oder vier Jahrgangsstufen gemeinsam unterrichtet.
Räume für Vielfalt
Die Greifswalder Schule zeigt in ihren Räumen, wie eine vorbereitete Lernumgebung aussieht, die selbst wiederum Vielfalt ermöglicht. Differenzierungsräume, Rückzugsgelegenheiten, Theatersaal, Musikwerkstatt, Turnraum und Treffecken öffnen sich den Besuchern. Das verglaste Atrium lässt auf den Garten, Spielplatz und auf das weite Fußballfeld blicken.
Eltern mit im Boot
Viele Eltern kämen mit der Vorstellung zur Montessori-Schule, „der ganze Morgen ist ein Spaß, und am Schluss hat man viel gelernt“. Was spielerisch aussehe, bedeute für die Kinder jedoch Arbeit, Ordnung und Selbstdisziplin. Das betonte auch Maria Montessori stets, und das erfahren Eltern bei Hospitationen. „Die Eltern müssen Vertrauen in die Pädagogik haben – und in die Selbstbildungskraft ihres Kindes“, sagt Nils Kleemann. Die starke Integration der Eltern ist an Montessori-Einrichtungen ähnlich verbreitet wie in den Waldorfschulen. Oft müssen sich Eltern zu einem unentgeltlichen Arbeitseinsatz von jährlich um die 20 Stunden verpflichten. Der beginnt mit Kuchenbacken und Materialputzen und reicht bis zu eigenen Projekten. Nervosität macht sich unter Eltern wie Schülern breit, wenn Abschlüsse oder Übertritte auf weiterführende Schulen anstehen.
Mission einer Bildungslandschaft
Seit Anfang 2007 wurde an einer Kooperation der Montessori-Schule mit zwei kommunalen Schulen, in Zusammenarbeit mit dem Schulträger und dem Staatlichen Schulamt, gearbeitet. Zwischen diesen Partnern ist inzwischen auch vertraglich geregelt, dass eine Reformklasse entstehen soll. In dieser Klasse soll erprobt werden, wie ein Lernen an staatlichen Schulen reformiert werden und sich dadurch der Unterrichtspraxis der Reformpädagogik annähern kann. Nicht weil Reformpädagogik per se etwas Besseres ist, sondern weil auch die Eltern und Lehrer, die diese Reformklasse unterstützen, von deren Potential für einen abwechslungsreichen Unterricht überzeugt sind. Die Reformklasse sollen Kinder aus regionalen Schulen (staatliche Schule bis 6. Klasse) und freien Grundschulen mit angeschlossener Orientierungsstufe besuchen.
Die Montessori-Schule hat dabei den Willen, die Erfahrungen aus einem Lernen mit reformpädagogischen Methoden in einer weiterführenden Klasse – einer Klasse im Anschluss an die Orientierungsstufe – zu etablieren und für diese einen neuen Lernraum zu schaffen. Auch an staatlichen Grundschulen werden reformpädagogische Methoden in den Unterrichtsalltag integriert. An den weiterführenden staatlichen Schulen ist dieses Selbstverständnis aber kaum vorhanden, mit einer Reformklasse bemüht man sich nun in Greifswald um eine Lösung.
Blick über den Zaun
Die Mitarbeit im bundesweiten Netzwerk von Reformschulen in staatlicher und freier Trägerschaft „Blick über den Zaun“ hat die Montessori-Schule und deren Träger dazu bewogen, diese Idee einer „Reformklasse“ zu entwickeln. Sie läuft nicht darauf hinaus, eine Montessori-Schule ab Klasse 7 zu denken, sondern sie will den Weg gehen, dass eine staatliche Schule sich an den reformpädagogischen Lernmethoden der Montessori-Schule ausrichtet und damit gleichzeitig die Unterrichtsqualität staatlicher Schulen verändert wird. Die „Reformklasse“ sozusagen als offizielles „U-Boot“.
Um sich diesen Zielen zu nähern, hat die Montessori-Schule seit vielen Jahren Projekte in den Unterrichtsalltag integriert, die die kommunalen Schulen und deren Schüler, Lehrkräfte und Eltern mit einbeziehen. Diese Projekte sollen die Kinder auf eine solche „Reformklasse“ vorzubereiten.
Mit dem Schuljahr 2006/2007 wurde in Mecklenburg-Vorpommern das längere gemeinsame Lernen eingeführt (gemeinsame Orientierungsstufe in Klasse 5 und 6 an Regionalen Schulen). Dadurch findet derzeit eine Neujustierung des Übergangs statt. Wenn noch im letzten Jahr in der „Vernetzten Unterrichtswelt“ Grundschulen aus dem Raum Greifswald kooperierten, werden es ab dem kommenden Jahr Schülerinnen und Schüler aus den Orientierungsstufen sein. Daran wird dann die Regionale Schule „Ernst-Moritz-Arndt“ beteiligt sein.
Bildungspläne mit nachhaltiger Wirkung!
„Hier merkt man schnell, dass man für seine Ziele etwas tun muss. Man muss das Lernen selbst in die Hand nehmen“, erklärt Johannes, der sich auf einen Vortrag über den Amazonas an der Montessori-Schule vorbereitet. Selbständiger und selbstbewusster seien seine Schüler, so Schulleiter Kleemann, und sozial kompetenter. Und so sind diese an Regelschulen gern gesehen. Noch im letzten Jahr wechselten 60 bis 70 Prozent der Montessori-Schüler auf staatliche Gymnasien, der „Rest“ an andere Schulen. Jetzt ist in Mecklenburg-Vorpommern das längere gemeinsame Lernen eingeführt worden und damit können Eltern mit einiger Erleichterung ihre Kinder bis zum Abschluss der 6. Klasse auf der Montessori-Schule lernen lassen. Aus diesem Grunde passt es vielleicht besonders gut, dass die Schule sich für den Status einer gebundenen Ganztagsschule entschieden und in die Erweiterung ihrer Räume investiert hat.
Schulrätin Gudrun Köhn vom Staatlichen Schulamt Greifswald erinnert daran, dass die Kinder nur eine Schulzeit haben und der sinnvolle Umgang mit dieser Zeit um so wichtiger ist. Die Schule trägt dafür eine enorme Verantwortung. Jedes Kind ist einmalig und muss in seinem Selbstwertgefühl bestätigt werden. Sie fordert, dass an allen Schulen Bildungspläne mit nachhaltiger Wirkung dieser Verantwortungsübernahme unter Beweis stellen.
Vernetzter Unterricht ist Ursprung einer Bildungslandschaft
Eine Bildungslandschaft braucht einen Boden, um sich darauf zu entwickeln. Ein Erfahrungs- und Handlungsraum muss vorhanden sein. Soll an einem staatlichen Gymnasium eine „Reformklasse“ eröffnet werden, die sogar bis zum Abitur führt, dann muss es zuvor im konkreten Unterricht „Anlässe“ gegeben haben, um diese Vision wirklich werden zu lassen. Aus diesem Grunde gehört die Vorarbeit in den „Vernetzten Unterrichtswelten“ maßgeblich dazu.
Beispielhaft hat sich ein Projekt entwickelt, das die Schulen, die sich gerade zusammenschließen, derzeit als „Best practice“ heranziehen. Am Projekt „Ich und Ich“ haben sich Kinder von kommunalen Schulen und Kinder der Montessori-Schule beteiligt (insgesamt 32 Kinder und 8 Lehrkräfte); in dieser Form auch eine Legitimation für weiterführende institutionelle Lösungen. Ein angeregter Austausch zwischen den Lehrkräften und Schulleitungen ist in Gang gekommen, die Diskussion über Unterrichtsqualität ist entfacht. In die Begleitung dieser Prozesse ist seit Jahren das Staatliche Schulamt Greifswald involviert. Kein Scheu bestand dabei, die Partnerschaft zwischen der Schule in freier Trägerschaft und der Schule in staatlicher Trägerschaft auch seitens des Schulamtes zu forcieren.
Die vernetzten Unterrichtswelten wurden inhaltlich durch die Erfahrungen der Montessori-Schule lebenszugewandt und damit an der Lebenswelt orientiert. Die Vernetzung erfolgte auf der Lernebene immer durch den Einsatz von SCHOLA-21 und auf der Organisationsebene in direkten Kontakten zwischen den Lehrkräften und den Schulleitungen. Durch die „Bottom up-Strategie“, gemeint ist, dass zuvorderst auf der Unterrichtsebene kooperiert wurde, kam es somit dazu, dass auf der personellen und organisatorischen Ebene der beteiligten Schulen für das gemeinsame Vorhaben einer „Reformklasse“ nur noch wenig geworben werden musste.
Neben dem Medienwelt-Projekt „Ich und Ich“, gab es bereits Projekte wie „Bora“, „Ostseeraum gleich Ostseetraum“ oder „Fit am Ball – Bewegung wollen wir alle! “ Nur durch den unermüdlichen Ehrgeiz der Montessori-Schule wurden die Projekte zwischen den kommunalen Schulen und der eigenen initiiert und das unter steter Einbeziehung auch außerschulischer Partner. Die Erfahrungen die dabei gesammelt wurden, waren Ausgangspunkte für Ideen und Visionen, die dann nach ihrer Verwirklichung suchten. Heraus kam die „Reformklasse“:
Kluft zischen der Unterrichtsqualität freier und staatlicher Schulen
Zentrales Ziel der „Reformklasse“ ist es, in Kooperation mit dem kommunalen Träger Schulen in und um Greifswald zu animieren, sich für schüleraktivierende Unterrichtsmethoden mit Lebensweltbezug zu öffnen und dadurch eine solche Unterrichtsqualität auch zu institutionalisieren. Dass bei diesem Entwicklungsvorhaben die kommunalen Schulen dazu gehören, ist der Tatsache geschuldet, dass niemand den Abstand zwischen der Unterrichtsqualität an freien und der Unterrichtsqualität an staatlichen Schulen weiter vergrößern möchte. Umgekehrt gipfelt in diesem Fall die Annäherung in der gemeinsamen Verantwortung für eine neue „Reformklasse“. Dabei kommen Schüler aus der Montessori-Schule und aus der Regionalen Schule „Ernst-Moritz-Arndt“ zusammen – jeweils nach sechs Schuljahren. Am Greifswalder Humboldt-Gymnasium wird diese Reformklasse dann ein Zuhause finden.
Für diese Herausforderungen haben sich die Schulträger auf eine stete Zusammenarbeit geeinigt, um die Anschlüsse an diese Klasse zu optimieren. Im März 2007 hat die Bürgerschaft der Hansestadt Greifswald den Beschluss gefasst, mit einer Kooperationsvereinbarung mit der Aktion Sonnenschein M-V e.V. (dem Schulträger der Montessori-Schule) die Rahmenbedingungen für das Schulnetzwerk genauer zu definieren.
Jetzt sind die Weichen gestellt
Die neue „Reformklasse“ geht im Schuljahr 2007/2008 in den Räumen einer staatlichen Ganztagsschule an den Start. Erstmalig in Mecklenburg-Vorpommern wird eine kommunale Schule ein so konsequentes reformpädagogisches Bildungskonzept umsetzen. Der kommunale Träger, die Hansestadt Greifswald hat zugestimmt. Die Lehrkräfte bereiten sich seit einem Jahr auf die veränderten Anforderungen an ihre Lehrerrolle vor. Lehrer aus den drei Schulen haben kleine Teams gebildet, die gemeinsam die Prozesse der Unterrichts- und Schulentwicklung voran bringen. Dabei vertraut man auf Partner wie das Landesinstitut für Schule und Ausbildung, das Pädagogische Regionalinstitut Greifswald, die Montessori-Vereinigung e.V. und die Serviceagentur „ganztägig-lernen“ der DKJS in M-V. Die überregionalen Netzwerke der Montessori-Schule ermöglichten Hospitationen an verschiedenen Reformschulen in Deutschland.
Es sei an dieser Stelle nochmals betont, dass nur durch die Vorarbeit in verzahnten didaktischen Prozessen auf der Unterrichtsebene die Ideen so weit reifen konnten, dass daraus eine eigene Klasse, die „Reformklasse“ entstand. Verbunden ist dies mit der Hoffnung, dass sich Unterrichtsqualität und lebendiges Lernen von einer freien auf eine staatliche Schule übertragen lässt.
In der Greifswalder Schullandschaft hat sich dadurch einiges getan. Schul- und Unterrichtsqualität wurden noch nie so heiß diskutiert. Der Mut seitens der kommunalen Träger und vor allem des Schulamtes Greifswald ist bemerkenswert. Die Jacobsstiftung unterstützt das Vorhaben im Rahmen ihres Programms „Lebenswelt“, das durch die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung umgesetzt wird.