Bernburg liegt im Herzen Sachsen-Anhalts. Wie andere Städte im Salzlandkreis ist Bernburg seit der Wende massiv vom demographischen Wandel erfasst. Die Bevölkerungszahl ist seit 1990 von 40.000 auf heute nur 30.000 Einwohner gesunken. 2003 waren 20 Prozent aller Schüler ohne Schulabschluss und meist sind es gerade die jungen qualifizierten Menschen, die abwandern. Die Folge für die Kommune sind unter anderem eine hohe Arbeitslosigkeit und gleichzeitig ein Mangel an Fachkräften für die regionale Wirtschaft.
Eine Stadt reagiert auf den sozioökonomischen und demografischen Wandel
Die Stadt handelt nun: Die derzeitigen drei Sekundarschulen der Stadt sollen bis 2012 zur Ganztagsschule „Campus Technicus“ zusammengefasst werden: Eine Schule im Zentrum, die durch neue pädagogische Konzepte eng mit den kulturellen und sozialen Einrichtungen der Stadt aber auch mit Wirtschaftsunternehmen zusammenarbeiten will.
Was das Projekt von herkömmlichen Ganztagsschulen unterscheidet, ist, dass hier Bildung zur Entwicklung der gesamten Stadt beitragen soll. Neben den Schulgebäuden ist ein sogenanntes „Treibhaus“ geplant. Ein Haus, in dem die unterschiedlichsten Einrichtungen der Stadt Bildungsangebote für alle Bürger bieten werden. Es soll so eine Bildungslandschaft entstehen, die die Innenstadt attraktiver macht und gleichzeitig die soziale Integration und berufliche Möglichkeiten der Schüler fördert.
Der Salzlandkreis ist eine der vier Kommunen, die bei der Entwicklung und Ausgestaltung des Projekts im Rahmen des Programms „Lebenswelt Schule“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und der Jacobs Foundation unterstützt werden.
Was soll die Ganztagsschule leisten?
Der große Saal des Kultur- und Bildungszentrums von Bernburg ist gut gefüllt. Unter schweren Kronleuchtern sind Eltern und auch viele Kinder gespannt darauf, zu erfahren, was es mit der neuen Ganztagsschule auf sich hat. Die meisten wissen nur, dass es praxisorientierter zugehen soll und finden das gut. Dass ein neuer Geist bereits jetzt in die Schule eingezogen ist, zeigen zwei fünfte Klassen der Sekundarschule „Süd Ost“, die innerhalb des Musikunterrichts den szenisch-musikalischen Auftakt der Veranstaltung einstudiert haben. An den leuchtenden Augen der Kinder sieht man, dass Schule Spaß machen kann und auch soll, wie ihre Schulleiterin Angret Zahradnik findet. Zusammen mit drei Schülern ihrer Theatergruppe, die ihr in einem Rollenspiel immer wieder Fragen zur neuen Schule stellen, legt sie dar, was anders werden soll. Individuelle Förderung Angret Zahradnik zeigt per Powerpoint eine Karikatur.
Lernort vieler Erfahrungen
Vor einem Baum stehen ein Elefant, ein Affe, ein Vogel, eine Katze und ein Hund. Ein Lehrer sagt zu ihnen: „Um es gerecht zu machen, bekommt ihr alle dieselbe Aufgabe. Auf den Baum!“ Klar, dass die kleine Monique auf Nachfragen ihrer Schulleiterin sofort begreift, dass der Elefant die Aufgabe wohl nicht bewältigen wird. Angret Zahradnik erklärt, wie wichtig es ist, die Fähigkeiten jedes einzelnen Schülers zu erkennen und ihn individuell zu fördern. Nur so kann Lernen, das für viele Schüler wie ein Gespenst ist, zu etwas werden, das ihnen Spaß macht. „Dabei muss Lernen den Kopf, das Herz und die Hand miteinbeziehen.“
„Campus Technicus“ mit „Treibhaus“ als Lernort vieler Erfahrungen: Angret Zahradnik erläutert, dass der Begriff Campus bedeuten soll, dass ähnlich wie an der Universität auf einem bestimmten Areal die verschiedensten Inhalte vermittelt werden. Ganz besonders will man die technische Bildung fördern. Lerninhalte sollen an die berufliche Praxis gebunden werden, indem zum Beispiel Naturwissenschaften an technische Probleme gekoppelt werden. In speziellen Fachräumen soll viel mehr experimentiert werden. Auch über Angebote technisch orientierter Kurse für Mädchen wird nachgedacht. Die Schule will mit dem neuen Konzept eng mit der Wirtschaft zusammenarbeiten. Gedacht ist an Ferienkurse und Praktika in Betrieben, aber auch einzelne Praxistage während der Schulzeit und Berufsberatung innerhalb der Schule. Einwänden von Eltern, dass das Konzept für manche Schüler zu technisch orientiert ist, kann sie den Wind aus den Segeln nehmen. Denn schließlich ist der berufs- und praxisorientierte Bereich nur einer von dreien.
Vielfältiges Angebot
Daneben sollen gleichwertig ein musisch-kultureller und ein gesundheitsfördernder Bereich stehen. Gemeinsam mit Musikschulen, Bibliotheken, Theater, Museen und anderen kulturellen Einrichtungen der Stadt wird ein vielfältiges Angebot von kultureller Bildung an der Schule geplant. Zusammen mit Sportvereinen und Einrichtungen aus der Gesundheit will man den Schülern beibringen, sich körperlich fit zu halten. Für alle drei Bereiche soll neben drei Schulgebäuden das so genannte „Treibhaus“ entstehen. Dort wird es Werkstätten zu Themen aus Handwerk, Musik, Sozialem, Gesundheit und vielem mehr geben. Und wenn Träger aus den verschiedensten Bereichen Veranstaltungen in das Treibhaus legen, kann es damit auch ein Bildungszentrum für Erwachsene werden und das Miteinander der Generationen fördern. Hier öffnet sich die Schule und wird zu einem integrativen und integrierten Bestandteil der Innenstadt. Die Bildungslandschaft wird im Treibhaus für Alle greif- und erlebbar.
Verschiedene Blöcke statt Einzelstunden
Angret Zahradnik erklärt, dass das neue Schulmodell nur funktioniert, wenn es nicht mehr nur 45 Minutenstunden, sondern verschiedene Blöcke aus Unterricht, Freizeit, gemeinsamen Mahlzeiten und Hausaufgabenbetreuung gibt. Die Befürchtung einer Mutter, dass Stunden in den Kernfächern wie Deutsch oder Mathematik gestrichen werden, entkräftet sie. Es käme eben nur etwas dazu, die anderen Fächer werden bleiben wie bisher. Die neue Schule bekommt ein neues Zuhause Damit die Anwesenden sich ein Bild von dem neuen Schulareal machen können, präsentiert der Baudezernent Holger Köhnke Skizzen von den geplanten Maßnahmen. Leerstehende Gebäude sollen zusammen mit den bisher genutzten Schulen drei Standorte bilden. An einem werden etwas außerhalb des Zentrums die fünften und sechsten Klassen untergebracht, damit gerade die Kleinen Ruhe und genügend Platz für Bewegung haben. Direkt im Stadtzentrum werden zwei weitere Gebäude saniert und jeweils für die siebten und achten sowie die neunten und zehnten Klassen zur Verfügung gestellt. Daneben wird das „Treibhaus“ mit angrenzender Mensa als ganz neuer Bau entstehen. Um die Finanzierung der veranschlagten Gesamtkosten von knapp 14 Millionen Euro kümmern sich die Ministerien für Städtebau und Kultus gemeinsam. Eine Kooperation, die deutlich macht, dass Bernburg auf Zusammenarbeit setzt.
Die Ganztagsschule als Reaktion auf eine sich wandelnde Welt
Helmut Thiel ist Schuleiter an der Johannes Gutenbergschule in Wolmirstedt. Die Schule ist seit 1994 Ganztagsschule. Im ersten Jahr war sie eine offene Form der Ganztagsschule, in der einige Schüler das Ganztagsangebot wahrnahmen und andere wie zuvor nur vormittags zur Schule gingen. Weil das Konzept bei Schülern und Eltern so gut ankam, ist die Gutenbergschule seit 1995 eine gebundene Ganztagschule, in der alle ganztägig in der Schule sind. Helmut Thiel, der auch Vorsitzender des Ganztagsschulenverbands Sachsen Anhalt ist, will veranschaulichen, dass die Ganztagsschule auch eine Reaktion auf die sich wandelnden Lebensumstände der Schüler ist. Schüler lernen heute anders als früher Er bittet einen Schüler nach vorne und fragt ihn, wie er gelernt hat, sein Handy zu bedienen. Der Schüler erklärt, dass er das schon konnte, bevor er ein eigenes hatte, weil es ihm Freunde gezeigt hätten. Für Helmut Thiel ist das ein sehr gutes Beispiel, um zu zeigen, dass Schüler heute viel voneinander und über Ausprobieren lernen. Während er selbst die Bedienungsanleitung durchlesen würde, um sich das Handy dann am Ende doch von seinen Schülern erklären zu lassen, gibt es bei den heute Heranwachsenden eine neue Form des Lernens. Helmut Thiel zeigt das Modell einer Lernpyramide.
Lernpyramide
Wenn man etwas nur erzählt bekommt, merkt man sich am wenigsten, nämlich nur fünf Prozent; liest man etwas, behält man immerhin zehn Prozent; gibt es Bilder dazu, zwanzig Prozent. Spricht man miteinander darüber, behält man fünfzig Prozent, und wenn man es anwendet sogar 75 Prozent. Am meisten, nämlich 90 Prozent, bleibt im Kopf, wenn man einander hilft. Diese Studienergebnisse zu berücksichtigen, ist für Helmut Thiel heute wichtiger als je zuvor, weil sich die Lebenswelt der Schüler stark verändert hat. Schule muss die Lebenswelt der Schüler berücksichtigen Stereoanlage, Fernseher, Computer und Handy gehören heute zur Grundausstattung von Grundschülern. „Da drückt man auf den Knopf und bekommt sofort, was man haben will“, so Helmut Thiel. Dadurch, dass sie immer weniger miteinander Probleme lösen, würden Kinder zunehmend Empathie und Einfühlungsvermögen verweigern. „Der Kontakt zur älteren Generation kommt oft nur aus der Konserve. Die Kinder sind nicht böswilliger als früher, aber sie haben gelernt, sich anders zu verhalten. Wenn wir wollen, dass sich das ändert, müssen wir ihnen das beibringen“. Ganz wichtig sei dabei, die Schüler individuell zu fördern und damit ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Das Selbstwertgefühl der Schüler stärken Helmut Thiel zeigt ein Bild, das allgemeine Heiterkeit im Saal auslöst. Eine Katze sieht in den Spiegel und erblickt einen Löwen. Helmut Thiel sieht ein entscheidendes Problem der Jugendlichen in ihrem fehlenden Selbstwertgefühl.
Kinder ermutigen
Daher geht es darum, nicht nur das Verhalten der Schüler, sondern auch, was sich dahinter verbirgt zu sehen: Die Ängste, Erwartungen, Enttäuschungen und Gefühle der Schüler wahrzunehmen, um sie stark zu machen. Ihre positiven Eigenschaften zu stärken, anstatt die negativen hervorzuheben. „Wenn wir ein Kind ermutigen, lernt es Selbstvertrauen, wenn wir ihm mit Toleranz begegnen lernt es Offenheit. Durch Aufrichtigkeit lernt es Achtung, durch Zuneigung Freundschaft, durch Geborgenheit Vertrauen und durch Liebe lieben.“
Diese sozialen Grundlagen sind für Helmut Thiel die Basis einer guten Schule. Und die lässt sich, wie er an seiner Schule beobachtet hat, in einer Ganztagsschule mit dem vielfältigen Angebot, aus dem die Schüler nach ihren Interessen auswählen können, besser verwirklichen. Zum Schluss gibt Helmut Thiel dem Projekt „Campus Technicus“ noch mit auf den Weg, dass Zusammenarbeit von allen Beteiligten, Lehrern, Eltern, Schülern, sozialen und kulturellen Institutionen für ein Gelingen des Projekts das Wichtigste ist. Nur so können aus Rückschlägen, die es bei solchen Herausforderungen immer gibt, Weiterentwicklungen werden.
„Campus Technicus“ – eine Herausforderung, von der alle profitieren können
Nach der Veranstaltung gibt es zwischen vielen Zuhörern einen Austausch. Nun weiß man mehr, und was man jetzt weiß, klingt für viele nach einer positiven Zukunft. Eine Mutter von zwei eigenen und drei Pflegekindern, die in Grundschule, Sekundarschule, Förderschule und Gymnasium sind, ist begeistert: „Ich sehe in jedem Bildungszweig, dass Schule an ihre Grenzen kommt und dass es darum geht, die Kinder besser kennenzulernen und auf sie einzeln einzugehen, eben weil sie so unterschiedlich sind. Ich halte das neue Konzept für eine sehr gute Variante, um die Kinder wieder mehr zu motivieren“. Eine andere Mutter, die zwei Kinder in der Schule hat, findet das Projekt toll und ist auch von der Altersstufentrennung sehr angetan. Dennoch ist sie skeptisch, ob das alles umgesetzt werden kann. „Da muss sich in den Köpfen der Lehrer noch viel ändern“, sagt sie und schiebt nach, „bei den Eltern allerdings auch“. Dass es noch viele Herausforderungen gibt, hat auch die Prozessbegleiterin Maren Campe beobachtet. Sie ist von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung im Rahmen des Programms „Lebenswelt Schule“ damit betraut, das Projekt inhaltlich zu begleiten und zwischen den einzelnen Akteuren zu vermitteln. Der ehemalige Landkreis Bernburg wurde im Juni 2007 aufgelöst und mit den Gemeinden der bisherigen Landkreise Aschersleben-Straßfurt und Schönebeck zum neuen Landkreis Salzlandkreis zusammengefasst. „Das stellt den noch recht jungen Landkreis und damit auch das Projekt „Campus Technicus“ vor ganz neue Herausforderungen,“ so Maren Campe. Die Kommunikation zwischen Landkreis und Stadt, mit ihren neuen und alten Verantwortungsträgern sei dabei nicht immer einfach. „Klar spielt da bei den anderen Kommunen auch ein gewisser Neid eine Rolle, dass nun so viele Mittel nach Bernburg gehen“, sagt Maren Campe. Hier zu vermitteln und deutlich zu machen, dass von dem Projekt letztendlich die gesamte Region profitieren wird, ist ihre Aufgabe.
Ängste abbauen
Auch die Lehrer der neuen Schule müssen von dem Projekt überzeugt werden. „Viele sind misstrauisch und haben vielleicht auch Angst vor neuen Unterrichtsformen und mehr Arbeit“, so Maren Campe. Sie hat dafür Verständnis. „Viele Lehrer in den neuen Bundesländern haben schon mehrere Fusionen hinter sich und mussten sich oft umstellen, da reagiert man auf Neuerungen nicht sofort mit Hurra“, sagt sie. Um so wichtiger sei es aufzuklären, Vorurteile abzubauen und deutlich zu machen, dass „ein neues Projekt zwar viel Arbeit, aber letztendlich auch zu mehr Zufriedenheit bei den Lehrern führen wird“. Erst zwei Wochen zuvor gab es eine Informationsveranstaltung nur für Lehrer, bei der es darum ging, die große Skepsis, die es auf dieser Seite gibt, auszuräumen.
Weitere Informationsveranstaltungen sind geplant, die nächste an den Grundschulen. Denn wenn Mitte nächsten Jahres, wie erwartet, die Finanzierung bewilligt ist, soll das Projekt mit einer fünften Klasse an den Start gehen. Dann wird es erste praktische Erfahrungen und konkrete Einsichten geben, welche Chancen die Ganztagsschule Kindern bieten kann. Und dann wird wichtig sein, an was die Schulleiterin Angret Zahradnik am Schluss ihrer Darbietung appellierte. Sie hatte ein Bild mit einem Boot gezeigt, in dem zwei Männer in entgegengesetzte Richtungen rudern und gesagt: „Es kann Skeptiker und auch Kritik geben, aber alle Beteiligten müssen in die gleiche Richtung rudern.“
Von: Reportage von Martina Wittneben
Datum: 31.08.2009
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Nachtrag:
Es wächst
Im Salzlandkreis wurde ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer Bildungslandschaft gefeiert: Mit der Eröffnung der Sekundarschulstufe 5 in der Bernburger Tolstoiallee ist am 15. August 2009 mit vielen Gästen der Bernburger „Campus Technicus“ erfolgreich gestartet. Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern feierten gemeinsam mit den lokalen Spitzen aus Politik und Verwaltung. Die Anwesenheit der Bürgermeister aus den umliegenden Gemeinden und mehrerer Landesminister unterstrich die überregionale Bedeutung dieses Modellvorhabens.