Grundschule am Hollerbusch Berlin

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DKJS/D. Ibovnik

 

 

Nilpferd oder Zeitmaschine, das ist hier die Frage – die Grundschule am Hollerbusch bietet Lernkultur auf höchstem Niveau – Eine Reportage von Britta Kuntoff

Aber Vorsicht mit den gängigen Tristesse-Klischees rund den Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf: Ein Beispiel: Die Grundschule am Hollerbusch. Der freundliche Name steht für Ideen und Weltoffenheit. Gepaart mit pädagogischem Enthusiasmus und Engagement entstand hier ein Ort, an dem eine Lernkultur aus Wohlfühlen und ausgezeichnetem Lernen Pflichtprogramm des Stundenplans ist.

„Guten Morgen Frau Ronneberger“ ruft ein achtjähriger Junge, als er immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe zum zweiten Stock hoch eilt, „Hallo Frau Ronneberger“, schallt es kurz danach aus zwei Mädchenkehlen – und das bleiben längst nicht die einzigen lächelnden Begrüßungen, die die Rektorin an diesem Vormittag bekommt. Die freundliche Atmosphäre an der Grundschule am Hollerbusch ist auffallend: „Vor kurzem hatten wir die Schulinspektion hier und das erste, was die gesagt haben war, dass wir so nette Kinder haben,“ erzählt Karin Ronneberger stolz: „Unsere Schüler sind sehr motiviert, kommen gern zur Schule und haben Spaß am Lernen. Natürlich passiert auch manchmal eine Prügelei, aber bis auf wirklich seltene Ausnahmen gibt es keine großen Konflikte unter den Kindern.“

Offenbar gehen die Ideen auf …

die aus der jahrelangen Erfahrung eines aufgeschlossen Kollegiums und in Zusammenarbeit mit Schülern und Eltern entstanden sind. Ganz wesentlich dabei: Eine Lernkultur, die darauf zielt, sowohl Kindern wie Pädagogen die Möglichkeit zu geben, miteinander entspannt und möglichst konzentriert zu lernen und zu arbeiten.

Rund 60 Prozent der Schüler kommen aus Familien, die sich aufgrund von Arbeitslosigkeit und fehlender finanzieller Mittel in einer schwierigen sozialen Lage befinden. In ihrer Schultasche bringen sie nicht nur Buch und Federmappe, sondern häufig auch ein dick geschnürtes Paket Stress mit in die Klasse. Das muss abgebaut werden, bevor es auf den Tisch kommt. Was dazu zum Einsatz kommt, trägt Namen wie Nilpferd oder Zeitreise und meint Bewegungs- und Entspannungsübungen, mit denen die Lehrer auf Zappelphilippe und laute Geräuschpegel reagieren können. Ein kurzer Robotertanz mitten im Unterricht hilft dem, der einfach nicht mehr stillsitzen kann. Und eine Phantasiereise mit geschlossenen Augen zu leiser Musik samt einer vorgelesenen Geschichte macht es selbst Störenfrieden leicht, innezuhalten und loszulassen. Dass so manch ein Kind hierbei richtig fest einschläft zeigt, wie nötig diese Ruhe für die Schüler ist.

Aber kosten solche Manöver nicht unnötig Zeit, die man doch so bitter nötig hat, um den Lernstoff durchzupauken? Die Erfahrung lehrt: Das Gegenteil ist der Fall. Die Kinder wissen, was passiert, wenn der Lehrer die Übung ankündigt. Ratzfatz sind alle auf Anfangsposition –  und sei es auf Bauchlage unter dem Tisch. „Hinterher habe ich eine völlig andere Klasse vor mir: Ruhig, diszipliniert, Schüler, die einen anschauen,“ schwärmt Ronneberger, die das Phänomen immer wieder begeistert. Leonie, 7 Jahre, findet die Übungen „einfach nur richtig toll“.

Gesundheit strukturiert den Tag

Seit 2006 ist die Grundschule am Hollerbusch Teilnehmer am Berliner Landesprogramm „Gute gesunde Schule“. Der Ernährungsführerschein, der in der Schülerküche erkocht wird, ist wie die Entspannungsübungen Bestandteil des umfassend angelegten Projektes Gesundheitsförderung. Sie organisiert den Tagesablauf im gebundenen Ganztagesbetrieb der Schule, bei dem sich sowohl im Unterricht wie in der Freizeit Phasen von Bewegung, Wahrnehmung und Entspannung abwechseln – und die sich nach den Bedürfnissen der Schüler richten. Stichworte, die auch beim Rhythmisierungsbegriff eine Rolle spielen.

Rhythmisierung orientiert sich am Biorhythmus

Der meint im Kern und kurz gefasst, dass die Kinder ihr Lernen nicht nach zeitlich eng vorgegebenen Plänen absolvieren müssen, sondern dass sich ganz umgekehrt der Tages- und Wochenablauf an den kindlichen Rhythmus anpasst und so die Lernvoraussetzungen optimiert werden können. „Wir versuchen, der Rhythmisierung so gerecht zu werden, wie nur möglich“, erklärt Karin Ronneberger, „aber was an einer kleinen Schule gut gelingen mag, das klappt bei uns mit unseren rund 550 Schülern einfach nicht so wirklich.“ Der Perfektionismusgedanke muss sich spätestens bei der Mittagspause verabschieden. Die genau und einigermaßen spontan nach dem Hungergefühl der Kinder zu legen, ist in der Praxis nicht umzusetzen. Damit alle Kinder in Ruhe und ordentlich essen können, ist in der Mensa von 11.15h bis 14.30h Betrieb. Zumal die Kinder täglich zwischen drei Gerichten wählen können – „nur eine einzige Mahlzeit anzubieten wäre sicherlich viel einfacher, aber das entspräche nicht unserem Verständnis von Ernährung, die nicht nur gesund sein soll, sondern zudem Essen ist, dass auch jedem schmeckt,“ meint die Schulrektorin.

Doch wenn auch die Schulwirklichkeit zwischen halb acht und 16 Uhr dem Wunschdenken nicht immer genügen kann, so steht den derzeit 34 Lehrern und 28 Erziehern der Grundschule am Hollerbusch eine beneidenswerte Palette von kreativen Möglichkeiten zur Verfügung, um auf die Ansprüche der Kinder reagieren zu können. Die Übungen im Unterricht sind dafür nur ein Beispiel, dass für die Jahrgangsstufen 1 bis 3 zu jedem Klassen- auch ein Hortraum gehört, ein anderes Exempel. So können sich je nach Bedarf Lehrer und Erzieher aufteilen und die Kinder in Lerngruppen differenziert, gezielt und auf gemäß ihrer individuellen Stärken und Begabungen unterrichten.

Psychomotorikraum

Draußen pfeift der Novemberwind. Im Erdgeschoß ist von Kälte nichts zu spüren. Zwei Kinder turnen an der Kletterwand, drei andere toben in der Bällekiste. „Unser Psychomotorikraum ist gar nicht mehr weg zu denken,“ sagt Birgit Lohde, Erzieherin für Integration: „Hier kann sich jeder ausprobieren, frei entscheiden, was er machen möchte, nehmen, wonach ihm gerade ist, ganz ohne Wertung. Bei uns verbringen Kinder ihre Freistunde oder finden Zuflucht, wenn es im Unterricht mal so gar nicht mehr geht.“ Ein Betreuer ist immer zugegen.

Genauso wie in der Schulstation. Dorthin können Kinder kommen, die es in der regulären Schulstunde nicht mehr ertragen – oder eben ertragen werden. So wie Jessie. Sie ist zwölf Jahre und geht in die 6b. „Im Klassenraum ist es mir oft viel zu unruhig, da lese ich lieber hier,“ erzählt sie, ein Buch auf den Knien, die Auszeit genießend, die sie dringend braucht. Andere reden sich hier bei geschultem Personal den Frust von der Seele. Aber einfach nur zu schweigen oder etwas zu basteln ist genauso in Ordnung.

Alle zusammen und auf jeden einzelnen abgestimmt: Schwerpunkt Integration

Hierher kommt auch  Jeremy mindestens einmal in der Woche. Er ist hörbehindert und wird in der Schulstation intensiv von einer pädagogischen Fachkraft betreut.

Schule mit Integrationsschwerpunkt

Die Grundschule am Hollerbusch ist seit ihrer Gründung 1991 eine Einrichtung mit Integrationsschwerpunkt. Die Einbindung von Kindern mit Handicaps lag nahe, befindet sich die Schule doch in einem Wohngebiet, das weitestgehend nach Standards gebaut wurde, die Menschen mit einer Körperbehinderung gerecht werden. „Für uns Lehrer, die ja als Kollegium neu zusammengestellt wurden, war das damals schon eine ziemliche zusätzliche Herausforderung,“ erinnert sich Karin Ronneberger: „Wir mussten uns nach der Wende an das völlig andere Bildungssystem gewöhnen. Aus DDR-Zeiten kannten wir nur das Sonderschulsystem. Integrative Beschulung gab es damals nicht.“ Ein Heilmittel gegen Skepsis ist Motivation – und die gab es an dieser Schule schon immer reichlich. Unter anderen durch zahlreiche Fortbildungen oder Beratungsgespräche mit Ambulanzlehrern können die Pädagogen heute auf die unterschiedlichen Voraussetzungen eingehen, die die derzeit 59 Kinder mit sozialpädagogischem Förderbedarf mitbringen. Längst sind dies nicht nur Kinder mit einer körperlichen Einschränkung, sondern auch lernbehinderte oder emotional gestörte Jugendliche.

Individuelle und differenzierte Förderung und Forderung aller Schüler

Die hohe Qualität der Förderung von Schülern mit Lernproblemen soll jedoch nicht zulasten der Unterstützung von Kindern gehen, die das Glück haben, den Unterrichtsstoff ohne große Mühe zu folgen oder die Entwicklungsvorsprünge haben. Um auch sie zu fordern, wurde 1999 der 40-Minuten-Takt bei den Unterrichtsstunden eingeführt und wertvolle Zeit gewonnen. So ist es möglich, in den Klassenstufen 1 und 2 zwei Stunden für zusätzliche Teilung herauszuholen und ein Kennenlernen der Fremdsprache Englisch zu ermöglichen. Die Stufen 3 und 4 nehmen je nach Interesse und Neigung der Kinder an klassen- und fächerübergreifenden Projektkursen teil – ein Beispiel ist die Theaterwerkstatt, bei der es nicht nur kleine Schauspieler, sondern eben auch Technik interessierte Beleuchter und künstlerische Requisiteure gibt. Für die Klassen 5 und 6 wird es dann ein bisschen ernster – geht es doch schließlich auch darum, Schüler auf den Besuch des Gymnasiums vorzubereiten. Dort gibt es A-, B- und Förderkurse in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik, um jeden Schüler nach seiner individuellen Begabung differenziert fördern zu können.

Ein Schulkonzept, dessen Qualität sich bei den Eltern herumgesprochen hat. In jedem Jahr möchten mehr Kinder diese Schule besuchen, als es deren Kapazität erlaubt. „Dass ist aber auch ein Kollegium, das ich mir nicht wegdenken möchte,“ erzählt Karin Ronneberger und lüftet damit den Großteil des Erfolgsgeheimnisses. Die Lehrer arbeiten Hand in Hand und setzen sich zusammen, wenn Redebedarf besteht. Sie sprechen sich ab, welche Arbeitsmittel gewählt werden oder wie die Inhalte des Rahmenplanes zu gestalten sind. Da gleich mehrere Lehrer an Fortbildungen mit ähnlichen Themen teilnehmen, funktioniert der Austausch über die Erfahrung in der Praxis wie im Selbstlauf und ist zudem enorm fruchtbar.

Ohne Pinke Pinke ist ringel rangel reihe ziemlich mühsam

Doch auch an der Grundschule am Hollerbusch ist nicht alles nur ringel rangel reihe. Berlin spart und kürzt. „Als wir die Integration aufgebaut haben, wurden uns acht Stunden für sonderpädagogischen Förderbedarf zugestanden. Zwei davon sind heute noch übrig,“ berichtet Sylvia Radoi, Koordinatorin für Integration und Beratungslehrerin. Da muss man sich was einfallen lassen, um durch die Ebbe in der Landeskasse nicht die Kinder auflaufen zu lassen. Klassenübergreifender Förderunterricht in Gruppen ist eine Lösung, die Sylvia Radoi jedoch nicht hundertprozentig zufrieden stellt. „Wir müssen sehen, wie wir uns weiterhelfen, ganz klar. Mit den Problemen, die sich zum Beispiel ergeben, wenn emotional gestörte Kinder eine vernünftige Unterrichtsstunde nicht mehr möglich machen, sind wir allein gelassen. Das ist unerträglich,“ klagt Karin Ronneberger.

Was sie und ihre Kollegen so zusammenschweißt, ist die Chance, sich wenigstens untereinander beraten und auf den Zusammenhalt verlassen zu können. Und nach Lösungen zu suchen. Nicht nur in Hellersdorf und Umgebung: Sondern in Österreich, Italien, Schweden, Norwegen, den Niederlanden und Lichtenstein: Jedes Jahr nutzen etwa die Hälfte aller Lehrer den Studientag und ein angehängtes Wochenende, um sich das Beste an verschiedenen Schulen in Europa abzuschauen. Flug- und Hotelkosten bezahlen sie aus eigener Tasche. Doch das scheint sich zu lohnen: Das Programm der Leseförderung, die Lernwerkstatt, in der Kinder Naturphänomene erfahren und begreifen können, oder die Idee, den Raum für Holzverarbeitung für das weite Spektrum des Sachkundeunterrichts zu nutzen, sind längst nicht alle Projekte, die von der Inspiration durch die Reisen profitiert haben.

Eine Schule mit „Traumraum“

„Den Traumraum haben wir aus Oslo mitgebracht, die Lehrer und Erzieher haben ihn dann hier selbst gestaltet und umgesetzt.“ Karin Ronneberger öffnet die Tür: Weiche Matratzen, blaue Stoffbahnen an den Decken, sanftes Licht und eine Diskokugel, die einen Sternregen auf uns fallen lässt – sich hier dem Traum von einer wirklich guten Schule hinzugeben, fällt gar nicht so schwer.

 

Datum: 06.12.2009
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