Individuelle Lehr- und Lernkonzepte

Theoretische Überlegungen, Beispiele aus der Schulpraxis und Forschungsansätze

Nicht nur die wenig erfreulichen Ergebnisse deutscher Schülerinnen und Schüler in internationalen und nationalen Schulleistungserhebungen, die besonders direkte Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom Sozialstatus, das schlechte Abschneiden von Kindern und Jugendlichen aus Migrationskontexten lassen eine verstärkte und vor allem auch frühere individuelle Förderung notwendig erscheinen, nicht zuletzt, um den Anschluss an den globalen Wandel der (Arbeits-)märkte nicht zu versäumen.

Bildung wird im 21. Jahrhundert für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland und angesichts der immensen Zunahme und Beschleunigung der zu verarbeitenden Informationen zu einem maßgeblichen Wirtschaftsfaktor. Was Lern- und Entwicklungspsychologie seit langem lehren, gewinnt nun auch gesellschaftliche Aufmerksamkeit und ist nicht mehr nur Sache der Familien: die frühe Förderung in den ersten Lebensjahren und im Vorschulalter. Daneben soll die Schule sich so wandeln, dass ihr Angebot zu den Vorerfahrungen, den Lernzugangsweisen, den Interessen, Neigungen, Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler passt. Lebenswelt- und Stärkeorientierung, Talententdeckung und -förderung, Selbstständigkeit und Partizipation, kooperative Arbeitsformen, Lernstrategien entwickeln – all dies Stichworte unter anderen, die den Perspektivwandel anzeigen: fort von der gesellschaftlichen Institution mit ihren organisationsstrukturellen Mechanismen im Fokus der Aufmerksamkeit, hin zu den Bedürfnissen und Bedarfen der jeweiligen Schülerinnen und Schüler; fort von Formen defizitorientierter Disqualifizierung, hin zu einer förderorientierten Pädagogik.

Abheben von der klassischen Unterrichtsschule

Eine ganztägige Schule hält in diesem Kontext in mehrfacher Hinsicht Antworten bereit. Zum einen muss sie sich schon wegen der längeren täglichen Verweildauer der Kinder und Jugendlichen ohnehin abheben von der klassischen Unterrichtsschule und beispielsweise ganz banale leibliche Bedürfnisse nach Nahrung und Bewegung berücksichtigen. Zudem strebt die reflektierte Ganztagsschule ein stimmiges und aufeinander abgestimmtes Konzept unterrichtlicher und außerunterrichtlicher Angebote an. Schließlich sucht sie im Unterricht nach Lernweisen, die alle Schüler/innen ansprechen und nach dem skandinavischen Motto „Kein Kind darf verloren gehen“ alle Mädchen und Jungen dort abholt, wo sie in ihrer jeweiligen Lernentwicklung stehen. Sie führt sie ohne Auslesedruck zu einem Bildungsabschluss. Doch häufig fehlen Schulen und Lehrkräften die Kraft und der Mut zu Veränderungen. Es sind schließlich nicht nur der andere Tagesrhythmus, das Mehr an Zeit, die zusätzlichen Räume, die verschiedenen Mitarbeiter und Kooperationspartner – nein, auch der Unterricht selbst will verändert werden.

Fragen

  • Wo findet man hierfür Hilfe und Unterstützung?
  • Was kann man falsch machen?
  • Welche Didaktik gibt die passenden Antworten?

Die vorliegende Analyse des erziehungswissenschaftlichen Diskurses zeigt, dass es gerade nicht um eine neue Didaktik geht, sondern um einen paradigmatischen Wandel hin zur Verantwortungsübernahme der Lernenden und Lehrenden für die gemeinsam verbrachte Zeit, um eine Flexibilisierung im Sinne der beteiligten Personen. Strukturen, wie beispielsweise Regeln und Rituale werden gemeinsam entwickelt, um das Miteinander zu erleichtern – und nicht, um als starre Vorgaben Einschränkungen zuzumuten. Lerninhalte, Methoden, Arbeitsweisen und Sozialformen variieren situativ, es herrscht „eine(r) Didaktik der Nicht-Didaktik“ (Peschel 2002, S.101 f.).

Doch schaut man sich in der Schullandschaft um, trifft man zurzeit noch auf recht wenige Beispiele von Schulen, die sich dieses Lernkonzept zueigen gemacht haben. Vorherrschend sind nach wie vor das curriculare Lernen und das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, beides Formen, die – sofern sie weitgehend Ausschließlichkeitscharakter besitzen – die Schüler/innen in eine passive Konsumentenrolle drängen.

Im zweiten Teil unserer Ausarbeitung werden unterschiedliche Unterrichtskonzeptionen und Ganztagsschulen vorgestellt, die sich alternativen, freieren Herangehensweisen im Lehren und Lernen annähern. Eine gesellschafts- und bildungspolitische Problematik besteht allerdings darin, dass diese Konzeptionen in Einrichtungen konfessioneller, privater oder freier Träger weitaus verbreiteter sind als in Schulen der öffentlichen Hand, und damit Kindern aus bildungsferneren Elternhäusern, die nicht gezielt Ausschau halten nach der besten Schule, vorenthalten bleiben. Besorgniserregend ist vor diesem Hintergrund der sich rasch beschleunigende Trend zu Privatschulen: Schon heute werden sie von 7 Prozent eines Schülerjahrgangs besucht. Zeichnet sich hier die Spaltung in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft ab, die die sozialen Unterschiede noch stärker als bislang auf den Bildungssektor überträgt? Diese Frage muss derzeit offen bleiben, sollte aber sehr rasch Eingang in die Schuldebatte finden, damit erforderlichenfalls noch rechtzeitig gegengesteuert werden kann.

 

Von: Sabine Knauer und Anke Uhlmann

Datum: 21.04.2008
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