Lebenswelt Schule

 

 

Vortrag anlässlich der Abschlussveranstaltung des Programm „Lebenswelt – Jugend leistet sich Gesellschaft“, welches durch die Jacobs Foundation, unter dem Dach der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, getragen wurde. „Lebenswelt“ hieß das Programm. Warum „Lebenswelt“? Und warum dieser Untertitel „Jugend leistet sich Gesellschaft“?

 

Nichts kann doch natürlicher und selbstverständlicher sein als die Lebenswelt – die gesellschaftliche Umwelt, in der das Leben von Kindern und Jugendlichen sich entfaltet. Braucht man dafür Projekte, die in diese gleichsam natürliche Lebenswelt eingreifen? Ja, die brauchen wir tatsächlich. Denn die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen viele Kinder und Jugendliche gleichsam von Haus aus aufwachsen, die sind nicht so, wie ein natürlich gestaltetes Leben es vorgeben würde, und vor allem nicht so, wie eine kindergerechte Gesellschaft es erfordert. Deshalb heißt es hier nicht, die Gesellschaft leistet sich Verhältnisse für Kinder und Jugendliche, die ihnen angemessen und bekömmlich sind, Verhältnisse, die eine gute Entwicklung für sie verbürgen. So müsste es eigentlich sein.

Vielmehr heißt es: „Jugend leistet sich Gesellschaft“, weil wir durch Anstrengungen und Bemühungen der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und mit Hilfe der nachdenklichen und freigiebigen Sponsoren der Jacobs Foundation Projekte auf die Beine stellen konnten, die den Kindern und Jugendlichen in einem zwar beschränkten, aber doch deutlich spürbaren Maße die Gesellschaft zu bieten versucht, die Verhältnisse einzurichten sich bemüht und die Bedingungen zu schaffen sich anstrengt, die ihre Lebenswelt gesünder machen und entwicklungsförderlicher gestalten will, als dies von Haus aus, das heißt vor allem: von ihren gesellschaftlichen Verhältnissen aus, bei allzu vielen Kindern und Jugendlichen der Fall ist.

 

Die Gesellschaft leistet sich eine benachteiligte Kindheit ! 

 

 

Eine gesunde und förderliche Lebenswelt für Kinder und Jugendliche ist also eine gesellschaftliche Aufgabe. Eine positive gesellschaftliche Umwelt für Kinder ist eine Aufgabe der erwachsenen Gesellschaft. Langsam wird dies der Gesellschaft auch bekannt und bewusst. Langsam entwickelt sich ein politisches Bewusstsein, eine Kinderpolitik, eine Vorstellung von den sozialen Erfordernissen einer positiven Umwelt für Kinder und Jugendliche. Nach und nach gilt es nicht mehr als normal und hinnehmbar, dass Kinder in Armut aufwachsen, was, so sagt uns der soeben veröffentlichte Bericht des Deutschen Kinderhilfswerkes, auf etwa 2,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren – d. h. bald 20 Prozent der Kinder zutrifft. Die Gesellschaft leistet sich Verhältnisse, die Kinder und Jugendliche zutiefst und folgenreich benachteiligen, ihre Entwicklung stören, ihre Befindlichkeit bedrücken. Die Gesellschaft leistet sich eine benachteiligte Kindheit und eine entwicklungsbeeinträchtigte Jugend. Die Gesellschaft leistet sich Bedingungen in der Kindheit, die sie selbst langfristig schädigen.

Wir reden von Kinderarmut. Doch es ist uns meist nicht bewusst, was Armut wirklich bedeutet. Dass die finanzielle Seite, die ökonomische Substanz der Armut vor allem die äußere Ansicht der Armutsverhältnisse in anderen Bereichen der Wahrnehmung und Erfahrung ist: Bildungsarmut, Chancenarmut, Kulturarmut, Bewegungsarmut, Gesundheitsarmut, Anregungsarmut, Erfahrungsarmut, Erlebnisarmut, Sinnarmut. Und was steht hinter diesen Begriffen? Einfach abgehängt sein – von den Selbstverständlichkeiten einer für uns normalen, der kulturellen Norm entsprechenden Erfahrung, d. h. von gesundem Essen, ja überhaupt von Essen, das satt macht; von sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen, z. B. weil die Klamotten fehlen; weil man nicht eingeladen wird oder ohne Geschenk nicht zum Geburtstag des Schulkameraden gehen kann, weil das beschämend ist. Nicht in den Zoo, nicht ins Kino, nicht am Schulausflug teilnehmen; kein Sportclub, kein Musikinstrument, kein Urlaub; kein Buch, kein Theater, keine Anregung, eben: keine Geselligkeit, keine soziale Stimulierung, keine kulturelle Anregung. Diese Kinder und diese Jugendlichen können sich Gesellschaft nicht leisten. Diese Kinder und diese Jugendlichen, das sind bis zu einem Drittel der Kinder und Jugendlichen in manchen Städten des Westens und manchen Regionen  des Ostens. Das sind Kinder mit Hartz IV-Stütze in Höhe von 207 Euro im Monat. Mit 207 Euro im Monat können sich Kinder keine Gesellschaft leisten. Da kann man sich über besserwisserische Leitartikel im Tagesspiegel zur Kinderarmut bloß wundern: ja, arme Kinder sind arm dran!

 

Elemente einer Lebenswelt

 

 

Nun ist es natürlich nicht so, dass ein Programm ´Lebenswelt eine globale Antwort auf die kulturelle Deprivation bietet, die zwar unter dem Namen Kinderarmut, Bildungsarmut, Erfahrungsarmut läuft, aber im Grund nach wie vor unbekannt ist und eher unter solchen Decknamen verborgen als unserem Wissen und unserem Mitgefühl erschlossen ist! Das Programm Lebenswelt exploriert einige unterschiedliche Ansätze, die das Versprechen enthalten, bestimmte Aspekte der Erfahrungsarmut zu kompensieren. Das ist wichtig, das ist strategisch hoch relevant, aber dennoch handelt es sich um mehr oder weniger begrenzte Strategien im Kontext von Bildungsprozessen, die Armutsfolgen kompensieren, Deprivationserscheinungen konterkarieren sollen. Es ist wichtig, solche Strategien zu erproben, ihre Wirkungen zu erkunden, die Möglichkeiten einer Antwort auf die Armutsfolgen zu explorieren.

 

Es sind Teile einer potentiellen Bildungsoffensive gegen die psychischen Folgen einer kulturellen Lähmung, die unser Schulsystem aufgrund seiner nachteiligen, die armen Kinder systematisch benachteiligenden Struktur erzeugt. Eine Bildungsoffensive, die Armutsfolgen erfolgreich kompensiert, hat unser Schulsystem dringend nötig. Elemente einer solchen zukünftigen Bildungsoffensive hat das Programm Lebenswelt der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung gleichsam stellvertretend für schulische und außerschulische Programmträger in Gang gesetzt. Sie sollen Elemente einer Lebenswelt werden, in der das Leben von Kindern und Jugendlichen nicht auf Armutsverhältnisse reduziert wird, sondern auch im Leben armer Kinder und Jugendlicher, wie im Leben aller Kinder, stille Potentiale aktiviert. Damit versucht die Stiftung, Handlungsbereitschaften für die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen zu entfalten, die in unserem Bildungssystem weitgehend still liegen, deren Aktivierung aber für alle Kinder wichtig ist. Sie werden vom Bildungssystem vernachlässigt, weil es auf solche Aktivitäten, anders als Schulsysteme manch anderer Länder, wie beispielsweise Kanadas, nicht vorbereitet ist. Darunter leiden alle Kinder, am meisten aber die armen. Von der Aktivierung profitieren dann alle Kinder, am meisten vermutlich wiederum die armen, denen Lernsinn und Erfahrungsreichtum am meisten fehlen. Die Anreicherung der Bildungsprozesse nutzt allen Kindern, auch den sozial Privilegierten. Sie stellt indessen ein besonderes Angebot für die Unterprivilegierten dar, deren Lebenswelten durch Armutserfahrung und Deprivationsfolgen von Einschränkungen bestimmt ist. Ihre Lebenswelten sind Mängelwelten!

 

Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Verantwortungsübernahme

 

 

 

Was aber ist es denn, was alle Kinder brauchen, aber den armen am meisten fehlt? Das Lebenselixier einer aktivierenden Kindheit, die konstitutive psychosoziale Sinnregulation in den intergenerationellen Beziehungen: Diese psychosoziale Sinnregulation ruht auf drei Säulen, oder ist vielmehr in drei dynamisch, funktional miteinander verbundenen und logisch aufeinander bezogenen Dimensionen begründet, die das Leben junger Menschen miteinander und in der Gesellschaft, in der sie aufwachsen, psychologisch mehr als alles andere bestimmt: dies sind Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Verantwortungsübernahme, Eigenschaften oder Funktionen, die miteinander in einer komplexen Beziehung stehen, voneinander abhängen und sich gegenseitig verstärken. Die Überzeugung eigener Wirksamkeit, diese optimistisch getönte Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit, die wir Selbstwirksamkeit nennen, jenes positive Gefühl, das mir sagt, ich kann es, wenn ich mir nur Mühe gebe, wenn ich mich anstrenge, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung als Basis jeder Leistungsbereitschaft setzt die Anerkennung der Person voraus, die sich ohne Anerkennung gedemütigt – und das heißt: als ohnmächtig, als nicht handlungsfähig erlebt: Handlungskompetenz folgt aus Anerkennung, Selbstwirksamkeit setzt Anerkennung voraus. Und umgekehrt ist die Überzeugung eigener Wirksamkeit die Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung: Ich kann nur verantworten, was ich selber zu tun vermag.

Niemand wird Verantwortung für etwas übernehmen, das er sich nicht selber zuschreiben kann. Alles partizipatorische Handeln, die Beteiligung an gemeinschaftlichen Initiativen, die Mitwirkung an Projekten, jede Kooperation setzt das Zusammenwirken, die innere logische Verbindung von Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Verantwortung voraus und ruft nach deren Förderung. Die innere Verbindung von Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Verantwortungsübernahme ist die psychologische Voraussetzung erfolgreicher Kooperation in Projekten und die Sprungfeder des bürgerschaftlichen Engagements. Beteiligung an Projekten stellt Gelegenheiten zur Stärkung des Selbstgefühls von Kindern und Jugendlichen durch Anerkennung dar – sowohl der Erwachsenen, Lehrer und Beobachter als auch der gegenseitigen Anerkennung der Beteiligten – durch die daraus erwachsende Selbstwirksamkeit und durch die dadurch ermöglichte Kraft zur Verantwortung. So sind Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Verantwortung zentrale Bestandteile der Kompetenzentwicklung im Kontext sozialen Handelns. Und so würde eine Lernkultur in heterogenen Gruppen psychologisch entgegenkommende Verhältnisse für die Entwicklung sozialer und kultureller Kompetenzen bilden, eine entwicklungsförderliche Lebenswelt für Kinder und Jugendliche, wenn wir wüssten, wie wir die entsprechenden Instrumente und Lernverhältnisse einsetzen können. Denn auch das müssen wir lernen, auch das muss erprobt und überprüft werden.

 

Vielfältige neue gesellschaftliche Räume

 

 

Genau diese Erprobung hat das Programm Lebenswelt mit unterschiedlichen Ansätzen unternommen, in verschiedenen Facetten, die alle auf Beteiligung, Engagement, Initiative in unterschiedlichen Projektzusammenhängen beruhen. Die einen sind besonders auf Anerkennung gerichtet, wie das Projekt biffy, das Kindern die Anerkennung großer Freunde, Erwachsener oder vielleicht auch älterer Kameraden erfahren lässt. Andere sind stärker auf das Ziel der Selbstwirksamkeitsförderung gerichtet, wie das Projekt Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit im Unterricht, in dem Lehrpersonen die Fähigkeit erwerben, die Initiative und Eigenleistung der Schüler als unterrichtsgestaltendes Prinzip hervorzukehren und in Strategien der Leistungsbewertung und –anerkennung zu bewähren.

Wieder andere richten sich besonders auf Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme, wie das Youth Bank Projekt, in dem Jugendliche die verantwortliche Evaluierung von Projektvorschlägen anderer Jugendlicher vornehmen und dadurch sowohl die eigene Verantwortlichkeit wie die ihrer Klienten kultivieren und handlungsorientiert koordinieren. Alle Projekte, wie immer orientiert, kultivieren stets den psychosozialen Zusammenhang von Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Verantwortung als ganzheitlichen Wirkungszusammenhang, der Aktivität und Engagement, Lernen und Erfahrung verbindet. In der Darstellung, die die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung von diesem Programm gibt, ist der Kontext treffend beschrieben. Es handelt sich, sagt die Stiftung in einem Arbeitspapier, um ein „weit gefächertes Netzwerk mit unterschiedlichen Projektformen, Akteuren und Zielgruppen. Durch diese Vielfalt sind vielfältige Schlüssel zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen vorhanden, und es können, gemeinsam mit den Zielgruppen, vielfältige neue gesellschaftliche Räume erschlossen werden. Eine Synergie der einzelnen Projekte trägt dazu bei, in einem gesellschaftlichen Feld auf lange Sicht grundlegend etwas zu ändern“ – nämlich, möchte man hinzufügen: die Armutsfolgen, die sich in Demütigung, Initiativlosigkeit, Verantwortungsverlust ausdrücken.

Die Darstellung der Stiftung ist vorzüglich formuliert und klug gedacht. Aber sie unterstellt bloß und sagt nicht ausdrücklich, welche psychologischen und psychosozialen Mechanismen das Programm dafür in Anspruch nimmt: nämlich das Wirkungsgeflecht von Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Verantwortungsübernahme, das hier beschrieben wurde. Und es lässt den gesellschaftlichen Kooperationszusammenhang noch ungeklärt, den es doch ausdrücklich beeinflussen will – nämlich, dass Jugend sich Gesellschaft leisten können soll, die Kompensation einer Erfahrungs- und Sinnarmut herbeiführen, die ein ungerechtes Bildungssystem massenhaft verstärkt.

Deswegen brauchen wir noch viele weitere Lebensweltprogramme und viele weitere verständnisvolle Sponsoren, denen Erfahrungsarmut und Sinnverlust im gesellschaftlichen Leben von Kindern und Jugendlichen zu Herzen gehen und denen die langfristigen Folgen der Exklusion großer Gruppen Heranwachsender aus der Gesellschaft Sorgen machen. Und die deshalb helfen, die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen konstruktiv und förderlich zu gestalten und Bildungserfahrungen zu entfalten, die allen Kindern Anerkennung und die Förderung ihrer Entwicklung bieten.

 

 

Datum: 26.11.2007
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