Der Schulleiter, Thomas Lorenz, blickt auf mehr als 15 Jahre Erfahrung zurück, unter anderem auch auf die Zeit als Schulleiter der ehemaligen Dresdner 141. Mittelschule im Neubaugebiet Gorbitz, welche 2005 einen Sonderpreis des Deutschen Hauptschulpreises gewonnen hat, aber dennoch 2006 geschlossen wurde. Damit wird leider zum wiederholten Male deutlich, dass erfolgreiche Profilierung keine Garantie für Standortsicherheit ist.
Auch die hier vorgestellte Mittelschule, die Thomas Lorenz seit nunmehr vier Jahren mit Unterstützung seiner damaligen und jetzigen Stellvertreterin, seiner bewährten Sekretärin und einer Gruppe innovationsfreudiger und –erprobter Kolleg/innen leitet, ist von einer Schließung bedroht. Sie liegt im Südosten der Stadt im Neubaugebiet Dresden-Reick. Einstmals auf der grünen Wiese erbaut, wurden inzwischen rund 1000 Wohnungen in den Häusern, die zur DDR-Zeit im Plattenbaustil errichtet wurden, „zurückgebaut“ oder abgerissen. Die restlichen 750 Wohnungen werden folgen, sie sind bereits größtenteils entmietet und bieten mit ihren zerschlagenen Fensterscheiben einen Anblick, der Eltern, die ihre Kinder an dieser Schule anmelden möchten, zunächst abschreckt. Am Schulstandort werden nach dem Abriss der beschriebenen Wohnbauten nur noch die Tierfutterhandlung „Fressnapf“, ein Getränkehandel, der im Volksmund „Trinki“ heißt, und die in typischer DDR-Architektur gebaute Schule übrig bleiben.
Die Schüler, die diese Schule besuchen, kommen nicht nur aus diesem Wohngebiet, sondern auch aus anderen Stadtteilen und Orten. Befragt man die Eltern nach Gründen für die Wahl dieser Schule, kann man sehr oft hören, dass die inhaltliche Gestaltung der Schule für sie wichtiger sei, als das triste Erscheinungsbild des Schulgebäudes in seinem Umfeld. Es besteht somit die Hoffnung, dass die Anmeldezahlen in Zukunft konstant bleiben und weiterhin in jedem neuen Jahrgang zwei Parallelklassen eingerichtet werden können. Für das kommende Schuljahr 2010/11 liegen zurzeit 32 Anmeldungen vor, so dass – ergänzt durch acht Schüler, die zwangsumgelenkt werden – die erforderliche Anzahl von 40 Schülern erreicht ist.
Unter den derzeitigen demographischen Bedingungen muss viel Öffentlichkeitsarbeit geleistet und jeder einzelne Schüler umworben werden.
Die Lern- und Arbeitseinstellung der Schülerschaft (oft wohnhaft in sozialen Brennpunktgebieten) ist durch erhebliche psychische Belastungen gekennzeichnet. Daraus resultieren mangelnde Lernmotivation und problematisches soziales Verhalten. In fast jeder Klasse ist mindestens ein Schüler, der in einer betreuten Wohngemeinschaft oder einer Pflegefamilie wohnt und somit meist einen staatlichen Vormund hat.
Mit welchen Veränderungen im herkömmlichen Schulalltag reagiert diese Schule auf die besondere Unterstützungsbedürftigkeit ihrer Schüler zur Bewältigung ihrer Lebens- und Lernprobleme?
Bereits seit 2002 stellt sich die 128. Mittelschule den standortbedingten Herausforderungen mit einem additiven Ganztagsschulkonzept. Die Schule ist an drei Tagen (Dienstag, Mittwoch und Donnerstag) von morgens um sieben bis 16.15 Uhr oder bis 14.30 Uhr an den beiden anderen Tagen geöffnet.
Der Schultag gliedert sich in zwei oder drei Einzelstunden zu je 45 Minuten und zwei eineinhalbstündige Unterrichtsblöcke zu je 90 Minuten am Morgen und vielfältige Ganztagsangebote am Nachmittag, welche auf dem Prinzip der freiwilligen Teilnahme beruhen. Mittags liefert eine Cateringfirma warmes Essen, das in eigens dafür eingerichteten Räumen eingenommen wird. Gleich neben dem Speiseraum können überschüssige Kalorien in einem Fitnessraum abtrainiert werden. Für die tägliche Bewegungsförderung sorgen Sport- und Tanzgruppen sowie in den Unterricht integrierte psychomotorische Spiele.
In gut ausgestatteten fachbezogenen Lernwerkstätten können Schüler töpfern, Zinnfiguren gießen, Textilarbeiten anfertigen und Miniaturwelten zu Ereignissen der sächsischen Geschichte bauen. Ein Musikraum, in dem unter anderem die schuleigene Band probt, lädt auch zu anderen spannenden musikalischen Experimenten ein. Eine Perücke mit langen blonden Haaren in der Requisitenkammer der Theatergruppe schmückt bei aktuellen Proben eine Schülerin, die die „sächsische Lorelei“ spielt. Soziale Gruppen mit den Titeln „Starke Jungs“ und „Starke Mädchen“ entwickeln das Selbstbewusstsein von Jungen und Mädchen und befähigen sie zu angemessenem Sozialverhalten im schulischen und außerschulischen Kontext.
Aktuell arbeiten 23 Lehrkräfte und zwei Sozialpädagogen gemeinsam mit den 210 Schülern an der Entwicklung von Lern- und Lebenskompetenz, die den jungen Menschen neben der Qualifizierung für den Arbeitsmarkt eine Chance auf zufrieden stellende individuelle Lebensqualität und verantwortliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eröffnen soll.
Das obligatorische Unterrichtsangebot am Vormittag und die in eigener Verantwortung gewählten Ganztagsangebote am Nachmittag sind durch das gemeinsame Ziel verbunden, den Schülern anwendungsfähiges und berufsorientiertes Wissen auf eine Weise zu vermitteln, die ihre Lern-, Sozial- und Methodenkompetenz entwickelt und stärkt. Ein großer Anteil der Schülerschaft kommt aus schwierigen familiären Konstellationen, die der Schule einen erweiterten erzieherischen Auftrag zuweist. Diesem widmet sich das Kollegium mit Unterstützung der Sozialpädagogen und gegebenenfalls unter Einbezug von „Hilfen zur Erziehung“, die über das Jugendamt eingesetzt werden und brach liegende familiäre Ressourcen wecken, welche dem Kindeswohl zugutekommen.
So wie der Schultag ist auch das Schuljahr durch verlässliche und ritualisierte Ereignisse gegliedert: das Apfelsaft-Projekt, der Einstein-Wettbewerb und der Talente-Wettstreit, der Tag des Schulsports, das Sommerfest oder der Weihnachtsmarkt, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Darüber hinaus weist der Jahresplan für jede Jahrgangsstufe eine Woche aus, in der an einem fächerverbindenden Thema gearbeitet wird. Dabei stehen fachliche Vertiefung, bewusstes Anwenden unterschiedlicher Lern- und Sozialformen oder Themen, die über die Lehrplaninhalte hinausgehen, im Mittelpunkt. Zu nennen sind zum Beispiel das Thema „Zeit“ in den sechsten Klassen, an dem die Fächer Deutsch, Physik, Geschichte, Biologie, Geographie, Mathematik und Sport beteiligt sind. Im Rahmen der Projektwoche erforschen die Schüler Zeitgeschichte, verschaffen sich einen Überblick über verschiedene Kalender, gestalten eine Uhr selbst, erstellen eine Wandzeitung zu verschiedenen Uhrenarten und bauen selbst eine Sonnenuhr.
In den Neigungskursen, die ab der siebten Klasse jahrgangsstufenübergreifend angeboten werden, arbeiten bis zu 16 Schüler an einem Thema, das im vorhergehenden Schuljahr aus den von den Schülern gewünschten und den Lehrern angebotenen Themen im Konsens entwickelt und erarbeitet wird. Das kann heißen „Alles Bio oder was?“, „Kunst im Schulgelände“, „Russisch“, „Unihockey“, um nur einige zu nennen. Der Schulgarten, der hinter der Schule angelegt wurde, wird in die Unterrichtsarbeit und Freizeitgestaltung mit einbezogen.
Zum berufsorientierten Profil gehören auch Themen aus dem Fachbereich Informatik, in dem die Schüler den verantwortungsvollen und professionellen Umgang mit modernen Medien, u.a. programmieren lernen können.
Um den unterschiedlichen Kompetenzniveaus der Schüler gerecht zu werden, stehen im Stundenplan Förder- und Forderkurse sowie Prüfungsvorbereitungsseminare bereit, die durch Fachlehrer gestaltet werden. Im Forderkurs Mathematik reifen besonders leistungsstarke Schüler zu ‚Assistenten‘ der Mathematiklehrer heran.
Hausaufgaben werden unter Anleitung von Fachlehrern erledigt und sind in ihrem Umfang so angelegt, dass sie weitgehend in der Schule erledigt werden können.
An vielen Schulen wird über Mangel an Platz geklagt. Hier an der 128. Mittelschule gibt es genügend Räume, sowohl für die im jeweiligen Fachunterricht benötigten Materialien und Werkzeuge als auch für interessenbezogene Freizeitangebote. Besonders beeindrucken die Fachkabinette für Chemie, Physik und Biologie, die zusätzlich zu den ansprechend ausgestatteten Unterrichtsräumen über wohl sortierte Vorbereitungsräume für die Lehrer verfügen. Wenn es gelänge, durch entsprechende bauliche Veränderungen mehr Tageslicht in die breiten Flure zu lenken, böte sich zusätzlicher Platz für offene Unterrichtsformen wie Freiarbeit, Stationenlernen etc.
Insgesamt macht das Innere der Schule den ersten, abschreckenden Eindruck von ihrem Äußeren und ihrer desolaten Umgebung mehr als wett.
Florian Mindemann (Mitte) von der Serviceagentur Sachsen berät die Schule bei Planung und Qualifikation
Als im Herbst letzten Jahres das Projekt „Labor Lernkultur“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) aufgelegt wurde, war es für die Gruppe im Kollegium der 128. Mittelschule, die bereits gute Erfahrungen mit der Teilnahme an Schulnetzwerken wie „Verbund Selbstwirksamer Schulen“ und „Demokratie leben und lernen“ gesammelt hatte, schnell klar, dass sie sich bewerben würden. Schließlich passt der inhaltliche Schwerpunkt des Vorhabens, Bedingungen für die Entwicklung einer neuen Lernkultur unter Betonung der Förderung der Selbstwirksamkeitspotentiale der Schüler und Bewusstmachung der strategischen Rolle der Lehrer in diesem Prozess zu schaffen, genau zu den Leitlinien, an denen die Lehrer ihre tägliche Gestaltung pädagogischer Freiräume orientieren.
Eine davon ist die Verstärkung der Schülerbeteiligung an Entscheidungen, die den organisatorischen Rahmen ihrer Schule betrifft. Bislang wird der Schülerrat bei entsprechenden Fragestellungen mit einbezogen und Schülersprecher nehmen an der Dienstberatung teil, wenn es z.B. um die Organisation des Schulfestes oder anderer Höhepunkte geht. Die Schülersprecher sind noch im Findungsprozess, um einen geeigneten Termin für regelmäßige Schülerratssitzungen zur Einrichtung einer wöchentlichen Schülersprecherstunde anbieten zu können. Abbildung öffnen
In der Klasse 5a von Frau Götze-Vogt gehört der Klassenrat bereits zur festen Einrichtung, und die Schüler zeigen bei einer Buchvorstellung, wie sicher und selbstverständlich sie die gelernten Kommunikations- und Feedbackregeln anwenden. Nicht nur, dass sie kriteriengeleitet Rückmeldung geben, sie berücksichtigen auch bei der Bewertung, dass ein Lernergebnis nicht unabhängig von den persönlichen Voraussetzungen des Mitschülers entsteht und folglich der Entstehungsprozess in die Würdigung der Leistung miteinbezogen werden muss. In Konfliktsituationen verantwortet sich ein Schüler, der die gemeinsam aufgestellten Regeln verletzt hat, gegenüber der Klassengemeinschaft. Diese zeigt keinerlei Bestrafungsbedürfnis, sondern verweist auf das gemeinsame Ziel eines kooperativen und freundlichen Miteinanders, auf das sich die Klasse im Rahmen der sog. „Wir-Werkstatt“ verständigt hat.
Verknüpft mit erweiterten Möglichkeiten zur Partizipation von Schülern ist eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Eltern durch „Schüler-Eltern-Lehrer-Konferenzen“ vorgesehen.
Eine weitere Entwicklungslinie stellt das Methodenlernen und die Teamarbeit von Schülern und Lehrern in den Mittelpunkt. Dabei geht es darum, die notwendigen Voraussetzungen für lebenslanges Lernen zu schaffen. Nach Jahrgangsstufen und Schwierigkeitsgrad gestaffelt erlernen die Schüler unterschiedliche Methoden, mit denen sie selbständig neues Wissen erarbeiten und verarbeiten können, wie z.B. das Recherchieren – dabei kommen auch die beiden Computer-Kabinette zum Einsatz – oder das Mind-Mapping. Zu den strukturierten Kommunikationsformen gehören neben dem erwähnten Klassenrat natürlich alle Formen der Gruppen- und Partnerarbeit sowie das Brainstorming.
Die genannten Lern- und Arbeitsformen sind nur eine kleine Auswahl aus dem umfänglichen Repertoire des Methodencurriculums, mit dem jeder Schüler von der 5. Klasse an bekannt gemacht und das in allen Fächern nicht nur im Rahmen der etablierten Freiarbeit durch regelmäßigen Einsatz vertiefend geübt wird.
Damit die Schüler sich geeigneter Lern- und Arbeitsformen auch außerhalb der Schule und später in beruflichen Zusammenhängen bedienen, plant die Schule mit Unterstützung von Florian Mindermann von der Servicestelle Ganztagsangebote Sachsen im Rahmen des Programms „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ die Herausgabe einer handlichen Broschüre „Lernen lernen“. Vorbilder dafür gibt es an der Scultetus-Mittelschule in Görlitz und an fast allen Schulen, die am „Labor Lernkultur“ teilnehmen.
Das Ziel „ein paar Dinge anders (zu) machen“ wird an der 128. Mittelschule Dresden beharrlich und in systematischen Schritten verfolgt. Um alle Beteiligten dabei mitnehmen zu können, werden die notwendigen Konzepte im Rahmen schulinterner Fortbildungen entworfen, zudem angeregt und bereichert durch Ideen anderer Schulen. Mit den Worten „Wir lernen jeden Tag was dazu“ macht die stellvertretende Schulleiterin deutlich, dass auch die Lehrerschaft sich als lernendes Team versteht.
SAG Sachsen
128. Mittelschule Dresden
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26.04.2010
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