Fragt man die Schüler an der Boostedter Schule, dann hat dieses Fach u.a. mit planvollem Einkaufen und dem Zubereiten von Mahlzeiten zu tun. „Weg vom Fastfood – die Schüler sollen lernen, eigene Mahlzeiten zu organisieren.“ Es geht also um lebensnotwendige Strategien, die die Heranwachsenden in einer Überflussgesellschaft entfalten müssen, um auch tatsächlich gesund zu leben. An der Grund- und Gemeinschaftsschule in Boostedt wählen etliche Schüler schon seit Jahren das Vorläufermodell „Kochen und Backen“ am Nachmittag. In bunten Schürzen lernen Schüler an vielen Schulen und generell die Vorteile von Schnellkochtöpfen und anderen Garungsinstrumenten kennen, die Zutaten beschaffen sie selbst aus dem benachbarten Supermarkt. Die amtliche Aufnahme des Faches in den allgemeinbildenden Fächerkanon soll nun alle Schüler über eine bewusste Verbraucherhaltung aufklären. Dabei besteht aber wie immer die Gefahr, dass Inhalte wegen ihrer Theorielastigkeit an den Interessen der Schüler vorbeigehen. So etwas passiert schnell, wenn ein Theoriefach im Vormittag steckt und experimentierendes, mindestens aber praktisches Handeln vernachlässigt wird.
Das Boostedter Konzept
Neues entwickelt sich an der Boostedter Schule auf der Grundlage von Bewährtem. Aus diesem Grunde soll die der Verbraucherlehre nahestehende AG „Kochen und Backen“ mit dem Fach verschmelzen. Theorie- und Praxislernen kommen mit diesem Ansatz in ein Gleichgewicht. Mit der Konzeption wird der vorgeschriebene zweistündige Fachunterricht mit optionalen Stunden des Ganztags sinnvoll aufgestockt. Eine Web 2.0 Plattform (SCHOLA-21) bezieht die Schüler bei der Bewältigung des Übergangs zwischen zuvor getrenntem Fachunterricht und offener Ganztags-AG mit ein. Der Fall wird im Rahmen des Labor Lernkultur getestet.
„Schülerinnen und Schüler dürfen auf keinen Fall unterfordert werden“, so Schulleiterin Dagmar Drummen an der Boostedter Grund- und Gemeinschaftsschule. Frau Drummen ist überzeugt, dass gerade in diesem Fach zahlreiche Vorkenntnisse bei den Schülern vorhanden sind. „Darauf müssen wir mit einer individualisierenden Konzeption Rücksicht nehmen.“ Ihrer Meinung nach sind etliche der Schüler bereits Verbraucherexperten, somit geht es um die Systematisierung vorhandenen Wissens und um ein Angebot zum Experimentieren. Verbraucherlehre ist ein Fach, bei dem durch informelles Lernen schon seit frühster Kindheit eine bunte Vielfalt an Wissen angesammelt und angewendet wird.
Mit dem neuen Fach hat die Schule eine zusätzliche Gelegenheit, Lehr- und Lernauffassungen zu überdenken und weitere Strategien der Differenzierung und damit eine Pädagogik der Vielfalt für ihre Schüler zu entfalten und eine darauf bezogene Didaktik zu entwickeln. Die Einführung wird zum Probelauf für eine vor allem differenzierende und handlungsbetonte Lernkultur. Mit der Kombination von Pflichtfach und AG verdoppelt sich die Zeit für einen Lerngegenstand, in mindestens der Hälfte dieser Zeit arbeiten die Kinder praktisch und eigenverantwortlich. Dieser Ansatz soll „Schule machen“ und schon im nächsten Jahr Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zu einem vielleicht teilgebundenen Ganztag sein.
Die Theorie wird weniger, wenn die Praxis zunimmt
An der Schule in Boostedt wurden vor der Konzeptarbeit die Schüler gefragt. Ihre Antworten bestätigen die Ideen des projektleitenden Lehrers. „Wenig Theorie, dafür praktisch arbeiten …“ – also Kochen, Backen, Organisieren, Einkaufen. „Bei zwei Stunden Fachunterricht mit zwei Stunden AG kriegen wir das hin“, meint Knut Schroller. Die gewonnene Zeit im Nachmittag wird von ihm ausschließlich als Praxiszeit definiert. „Klar müssen wir auch lernen, wie alles ist und was es bedeutet,“ meint Laura (14) und freut sich, dass sie am Nachmittag die recherchierten Rezepte und ihr Lebensmittel-Wissen anwenden kann. Sie will eigene Ideen am Herd in die Tat umsetzen und hofft, dass sie beim gemeinsamen Einkauf der Zutaten auf Gelerntes trifft. Die Analyse der auf den Produkten veranschlagten Fettanteile und Zusatzstoffe spielt dann eine wichtige Rolle. Der Einkauf zieht sich möglicherweise in die Länge – warum nicht! Die Zeit ist vorhanden, meint Schulleiterin Drummen, und ergänzt: „Was die Kinder jedoch auf diese Weise lernen, wird dann beim theoretischen Arbeiten reflektiert.“
Gelegenheit für neue Erfahrungen
Die Verzahnung von Vor- und Nachmittag ist an der Schule keine Selbstverständlichkeit. Noch vor kurzem war der Vormittag überwiegend vom Nachmittag getrennt. Die „Vormittagslehrkräfte“ rückten aus der Schule aus und die Angebotsbetreuer kamen in die Schule hinein. Die hat dann bis in den späten Nachmittag geöffnet. Dieses Modell funktionierte bisher ganz gut. Die Angebote am Nachmittag waren und sind auch ohne Kopplung zum Vormittag nachgefragt. Tennis, Fußball, Golf und auch „Kochen und Backen“ sind beliebte Gelegenheiten, mit Freunden etwas Sinnvolles zu machen und dabei Ausgleich und Spaß zu haben. Wenn sich jetzt daran etwas ändern soll, dann will Schulleiterin Drummen nicht etwa den ganzen Tag verschulen. Sie sucht schon seit längerem nach brauchbaren Lösungen, um Brücken in den Nachmittag zu bauen. Die Einführung der Verbraucherlehre ist für sie eine Gelegenheit.
Druck in den Nachmittag – Praxis in den Vormittag?
Der verordnete Ganztag zog es nach sich, dass die Schule eine zwar kleine, aber wunderschöne Mensa bekommen hat. In dieser können die Kinder eine warme Mahlzeit einnehmen und sich dann auf einem weiten Gelände rund um die Schule austoben oder in der Schulinsel auch bei schlechtem Wetter entspannen. Zu klein ist die Mensa nur dann, wenn man in den gebundenen Ganztag hinein denkt. Die Sozialpädagogin Pamela Krassau ist als Ganztagsschulkoordinatorin die „Hüterin der Angebote am Nachmittag“. Sie und die Schulleiterin sind sich vertraut. Beiden gefällt die Idee zur „Verbreiterung“ der Verbraucherlehre. Koordinatorin Krassau weiß, dass dadurch mehr Druck in den Nachmittag kommt, aber auch mehr Praxisorientierung in den Vormittag. Beides scheint einander zu bedingen, wobei es nicht um Druckaufbau, als vielmehr um Druckausgleich geht.
Den eigentlichen Reformbedarf sieht Schulleiterin Drummen bei der Lernkultur am Vormittag. „Wenn Verbraucherlehre ein neues Unterrichtsfach wird, statt Experimentier- und damit Handlungsraum für gesunde Lebensorientierung, dann ist die Motivation unserer Schüler verloren. Beim Thema Gesundheitsorientierung wäre das fatal.“ Drummen freut sich somit auf das neue Konzept. Für Lehrer Knut Schroller ist das geplante Modell ein „Zeit- und Qualitätsgewinn“ zugunsten aller Beteiligten. Er hat die Expansion des Fachs planerisch zu Papier gebracht und mit seinen Kollegen diskutiert. Als zukünftiger Projektleiter will er sogar die Plattform SCHOLA-21 als „Schnittstelle“ für Selbstorganisation und für eine breitere Kommunikation erproben. „Die Auseinandersetzung mit Hintergrundwissen wird durch eine Plattform reizvoller“.
Noch ist das Computerlabor nicht an einen Web 2.0 Einsatz gewöhnt, aber durchaus geeignet. Die Lernergebnisse aus dem Vormittag werden im angedockten Zeitbereich des offenen Ganztags, also am Nachmittag auf dem PC in der Schulküche abgerufen, ebenso Einkaufslisten und Rezepte. Dabei wird in der Küche mit Topf und Pfanne, Rührstab und Herd probiert und experimentiert und das Erlebte wieder auf der Plattform festgehalten. Die praktische Erfahrung steht damit nicht nur zur Reflexion am Vormittag wieder zur Verfügung, sondern auch zu Hause in den heimischen Küchen. Ob diese „Schaltstrecke“ sich bewährt, ist zu erproben. Die Konzeption ist an der Schule somit auch ein innovativer Fall.
Schutzraum Labor Lernkultur
Die Beteiligung der Boostedter Schule im Labor Lernkultur ist Legitimation und Schutz für das Experiment gleichermaßen. Die Zusammenarbeit mit Birger Lassen von der Service-Agentur der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung in Schleswig-Holstein ist für die Schule ein Gewinn. Mit ihm als Außenstehendem wird „Geplantes“ kritischer reflektiert und immer wieder hinterfragt. „Die Nachsteuerung wird dadurch konkreter und die verbindliche Implementation im kommenden Schuljahr um so wahrscheinlicher“, so Schulleiterin Drummen. Mit Lassen wird die Schule auf das Labor-Netzwerk orientiert. Er beobachtet, auf welche Weise die Schule Prozesse entwickelt, um für sich daraus neue Beratungsstrategien zu entwickeln, aber auch um die guten Erfahrungen der Boostedter an anderen Ganztagsschulen zu multiplizieren.
Alle Schüler der 8.Klasse werden nicht nur an der Verbraucherlehre, sondern zukünftig auch an der Arbeitsgemeinschaft teilnehmen. Es wird dann „enger“ am Nachmittag, aber die Küche hat Platz. Die Chance für eine erfolgreiche Verzahnung ist hoch, denn es muss weder im Vormittag noch im Nachmittag Neues organisiert, sondern das Vorhandene nur neu „kultiviert“ werden. Die neue Lernkultur spiegelt sich am Vormittag nicht nur in der Verkostung der in der vergangenen Woche gebackenen Müslitaler wider, sondern auch in den Erfahrungen, die die Schüler beim Einkaufen und Arrangieren von Zutaten gemacht haben. Ebenso ist es denkbar, dass die Praxisarbeit ihren Schwerpunkt am Vormittag findet und am Nachmittag dagegen nochmal nachgelesen und an der Theorie gearbeitet wird. Dann möglicherweise auch direkt im Netz.
Systemischen Umgang mit Kompetenzlernen
Anhand des Falls zeigt sich, dass die Schule für die Konzeptarbeit gute Instrumente bereit hält. Knut Schroller hat an dieser Schule das Lehren gelernt. Für diesen Fall sollte der werdende Lehrer einen schuleigenen Lehrplan konzipieren. Das fiel ihm wegen der professionellen Vorlagen sicher leicht. „An dieser Schule ging es seit jeher auch darum, dass die Kompetenzen als Bildungsstandards verstanden und damit systemisch verankert werden. Die schulinternen Lehrpläne müssen dafür Handlungsplätze beschreiben, in denen sich Lehrer und Schüler wiederfinden können.“ Diesen systemischen Umgang mit Kompetenzlernen hat Schulleiterin Drummen seit langem vorgedacht. Allen schulinternen Lehrplänen liegt ein Jahresplanraster zur Kompetenzvermittlung zugrunde. Diese verbindliche Planungsofferte sichert den systematischen Kompetenzerwerb. Dabei geht es der Schulleiterin und ihrem Kollegium nicht um die fachlichen Kompetenzen, sondern um das privilegierte Vermitteln von „Softskills“ wie Teamfähigkeit und Methodenwissen. Das Raster ermöglicht die fächerübergreifende Kooperation zwischen den Lehrerinnen und Lehrern und verhindert die einseitige Orientierung auf Faktenkompetenz. Jeder schulinterne Lehrplan hält eine Spalte vor, in der das Kompetenzcurriculum „mitläuft“ und sich immer auch in den anderen Spalten der fachorientierten Planung widerspiegeln muss.
Bei der Entwicklung von schulinternen Lehrplänen greift das Kollegium auf etablierte Kooperationen zu. Das sind die klassisch organisierten Fachschaften, in denen die Jahresplanungen gemeinsam entwickelt werden. Dabei geht die Schulleiterin in ihren Forderungen soweit, dass sich die einzelnen Mitglieder eines Fachteams lange Lehrplanstrecken teilen und jeder einen oder mehrere Abschnitte entwickelt. Themenbezogen werden dann von anderen erarbeitete Abschnitte an die eigene Planungsstrecke angefügt. Dieses Vorgehen erzwingt Gespräch und Zusammenarbeit, sagt die Schulleiterin: „Damit ergibt sich Evolution, denn die Vorstellungen des einen kompensieren die möglicherweise einseitige Denkweise des anderen. Die kollektive Fach- und Methodenintelligenz wird provoziert und es entstehen vielseitige und abwechslungsreiche Lehrpläne“, so Drummen. Mit dem Ergebnis unterrichten dann alle Fachschaftskollegen. Auch dies ist ein Resultat verkoppelter Planungen im Lehr- und Lerngeschäft in Boostedt.
Webseite
Grund- und Gemeinschaftsschule Boostedt
www.schule-boostedt.de
Datum: 01.03.2010
© www.ganztaegig-lernen.de