Prof. Dr. Dr. hc. Wolfgang Edelstein
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Vortrag auf dem Kongress „Kinder zum Olymp“ der Kulturstiftung der Länder, Saarbrücken, 29. Juni 2007
Wer mehr Chancen für Kinder einfordert, muss offenbar von einem Tatbestand geringer Chancen ausgehen, der kritisch betrachtet und beurteilt wird – dass Kinder im Lande zu wenig Chancen haben. Dies ist vor allem eine normative Aussage. Zu wenig heißt: weniger als notwendig, weniger als angemessen, weniger als wünschenswert. Die Aussage impliziert einen Standard und eine Kritik am Verfehlen des Standards. Beides, der Standard und die Kritik, muss begründet werden. Ich lege also den Titel dieser Aussprache folgendermaßen aus: Wir haben ein Problem mit dem Angebot ästhetischer Bildung. Kinder erhalten nicht die ihnen gebührenden Chancen, sie sind unterprivilegiert im Hinblick auf das für ihr Wohlergehen und für ihre Entwicklung erforderliche Maß an ästhetischer Bildung. Das hat mit dem Schulsystem und seinem Zeitregime zu tun. Sonst wäre eine Überschrift nicht verständlich, welche die Ganztagsschule in den Fokus rückt. Es geht also in den folgenden Minuten um dreierlei:
- Es geht um den Aufweis der Chancen bzw. der Chancenarmut von Kindern im Lande, insbesondere im Schulsystem. Das ist nun nichts Neues mehr, doch es ist immer noch ein viel zu wenig beachteter Tatbestand. Dass Chancenarmut in besonderem Maße im Umfang kultureller Deprivation und in einem Mangel an ästhetischer Erfahrung zum Ausdruck kommt, das gelangt fast nirgends auf die Agenda, weder der Schulen noch der Kultusminister oder der Politik im Allgemeinen. Hier kann es sich freilich nur um grobe Hinweise auf einen komplexen und vielschichtigen Sachverhalt handeln, der bereits für sich genommen eine längere Abhandlung erfordern würde. Doch für das Argument „Arme Kinder brauchen ästhetische Bildung“ (mein zentrales Argument in diesem Vortrag!) ist ein Hinweis auf die Armuts- und Ungleichheitsproblematik unverzichtbar.
- Es geht um die ästhetische Bildung selbst – ein Thema, das nicht weniger komplex ist als das vorhergehende. Dabei geht es um die Funktion der ästhetischen Bildung im Rahmen eines kompetenzorientierten Konzepts schulischen Lernens. Im Rahmen eines solchen Konzepts stellt ästhetische Bildung für Kinder Chancen bereit, die im Zuge der Prozesse der Rationalisierung und Effizienzsteigerung, von denen das Schulsystem erfasst ist, verloren zu gehen drohen. Es geht also um die Bedeutung, die ästhetische Bildung im Lern- und Bildungsprozess der Kinder im Einklang mit neueren Auffassungen von konstruktivem Lernen, multiplen Intelligenzen und neuropsychologischer Aktivierung erhalten sollte; und vor diesem Hintergrund geht es um Folgen der Ungleichheit der Chancen auf ästhetische Bildung im Kontext der Schule.
- Es geht um die Rolle der ganztägigen Bildung, der sog. Ganztagsschule in diesem Zusammenhang. Was bietet die Ganztagsschule, das andere Schulen nicht bieten? Wir wollen im Rahmen der knappen verfügbaren Zeit die von der Ganztagsschule gebotenen Gelegenheitsstrukturen zum Ausgleich ungleicher Chancen in doppelter Hinsicht prüfen: Wie kann die Ganztagsschule die Unterausstattung des zeitarmen Normalprogramms mit Gelegenheiten und Prozessen der ästhetischen Bildung ausgleichen? Und wie kann die Ganztagsschule, anders als die im Halbtagsprogramm arbeitenden Schulen, zum Ausgleich der relativen Deprivation der Kinder beitragen, die im gegenwärtigen System durch den Mangel an ästhetischer Bildung zusätzlich geschädigt werden? Das setzt die Klärung der beiden vorhergehenden Fragen voraus: der Frage nach Deprivation und Chancen sowie der Frage nach Sinn und Funktion ästhetischer Bildung im Lern- und Bildungsprozess der Kinder.
System der Chancen
Die Forderung nach mehr Chancen impliziert
die kritische Feststellung, dass der Status quo
zu wenig Chancen für Kinder bereithält.
Wenn wir für einen Moment den Blick von unserem besonderen Gegenstand – der ästhetischen Bildung – abwenden und ihn auf das System der Chancen richten, die Kindern zur Verfügung stehen, wird schnell deutlich, dass die Lage der Kinder in unserem reichen und privilegierten Land der Export-Weltmeister und Elite-Universitäten nicht gerade rosig ist. Der Sonderberichterstatter der UNO für Bildung hat im vorigen Jahr die Frage aufgeworfen, inwieweit das deutsche Schulsystem mit seiner frühen Selektion für ein die Lebenschancen determinierendes dreigliedriges System weiterführender Schulen die Kinderrechte verletzt. Darauf gab es empörte Reaktionen.
Die frühe Selektion trifft vor allem die weniger Privilegierten, doch in gewisser Hinsicht treffen ihre Folgen alle Kinder. Die frühe Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg mit lebenslangen Folgen hängt wie ein Damoklesschwert über der Kindheit nicht nur der nicht-bürgerlichen Schichten, die insofern nicht sorgenfrei ist. Viele Kinder leiden – nach Aussagen von Psychologen – an psychischen Traumatisierungen, zumal aufgrund ihrer Schulerfahrung. Sie leiden an Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen, psychomotorischen Defiziten, Koordinationsausfällen. Ungezählte Kinder werden mit Ritalin behandelt. Ein Drittel der Kinder wächst ohne Geschwister auf, jede zweite Elternehe wird geschieden. Ein Viertel aller Kinder unter 15 Jahren ist arm; sogar ein Drittel aller Kinder in den großen Städten lebt in Armut. Hartz IV sieht für das von Armut betroffene Segment – fast zwei Millionen Kinder – monatlich 207 Euro vor. Viele Kinder in den Armutsvierteln der Städte kommen ohne Frühstück in die Schule, doch zugleich sind viele von ihnen übergewichtig, bewegungsarm, kulturverdrossen.
Diese Kinder sammeln sich in den unterprivilegierten Abteilungen des dreigliedrigen Schulsystems. Überproportional viele sind Migranten, deren kulturelle Integration in die Gesellschaft nicht gelingt; überproportional viele verlassen die Schule ohne Abschluss, finden keine Lehrstelle, finden keine Anstellung, werden in Dauerarbeitslosigkeit sozialisiert, vererben die Armut auf die nächste Generation – ein unglückseliger Kreislauf von ökonomischer Armut, Bildungsarmut, kultureller Armut und psychisch nachhaltiger Deprivation. Dies ist der sozioökonomische und zugleich kulturelle und kognitiv-emotionale Hintergrund der Frage nach ästhetischer Bildung – und ihren Chancen für die Kinder. Die Frage, die sich daran anschließt: Würde ein Angebot ästhetischer Bildung am Schicksal der Unterprivilegierten etwas ändern? Perlen vor die Säue oder ein Zaubertrank der Veränderung? Gibt es darauf eine begründete Antwort?
Um begreifen zu können, welche Chancen ästhetische Bildung transportiert, müssen wir uns dem Sinn, der operativen Bedeutung ästhetischer Bildung zuwenden.
Warum müssen wir denn dem Sinn ästhetischer Bildung in einer Schule für alle nachgrübeln?
Reicht es nicht, die Tradition einer ästhetischen Kultur der Schule wiederherzustellen, die mit Kunst und Musik ihre Stellung im kanonischen Zusammenhang der Bildungsgüter über ein Jahrhundert behauptet hat? Freilich haben die kanonischen Kunstfächer in der Schule im Verlauf der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ihre Stellung immer deutlicher eingebüßt. Die allgemeine Auffassung von Bildung ist funktionalistischer, ökonomischer, rationalistischer geworden, messbare Qualifikationen und Standards sollen Investitionen in Bildung rechtfertigen. Da haben elementare Fertigkeiten des Lesens und Textverstehens, des Rechnens und mathematischen Modellierens, der naturwissenschaftlichen Welterschließung und technischen Manipulation der Welt offenbar einen besser begründeten Anspruch an die insgesamt sparsam bemessene und teuer bezahlte Zeit, die für das Lernen in der Schule zur Verfügung steht. Der klassische Kanon ist auf dem Rückzug vor der funktionalistischen Legitimation moderner Bildungsgüter; und das ist in mancher Hinsicht auch gut so, denn die Schule muss die jungen Menschen auf ihr Leben in der Gegenwart mit zukunftsfesten Kompetenzen ausstatten, die ihnen in einer globalisierten Welt das Überleben ermöglichen. Da stellen die „kleinen Fächer“ mit ihrem geringen Stundenumfang im standardisierten Stundenplan der Sekundarschulen mittlerweile bloß das Ergebnis von Kompromissen zwischen zwei Kulturen dar.
Sollen wir dazu aufrufen, die geschwächte Stellung von Kunst und Musik im Stundenplan durch eine Restitution des Status quo ante wiederherzustellen? Wird diese nicht durch die starke Stellung von Musikschulen und Kunstprojekten im Nachmittagsplan der gebildeten Stände, durch Programme wie „Kinder zum Olymp“, durch die kunstpädagogische Arbeit der Yehudi Menuhin Stiftung oder auch durch das bahnbrechende Programm „Jedem Kind ein Instrument“ in NRW mehr als wiederhergestellt?
Lohnt es sich denn überhaupt, für ästhetische Bildung auf die Barrikaden zu gehen?
Alle diese Programme – vielleicht bis auf das letztgenannte mit seinen fast venezolanischen Anklängen – leiden indessen an der Auszehrung der Chancengleichheit, die wir vorhin beschrieben haben. Sie steigern das Privileg der Bessergestellten und sorgen deshalb nicht für mehr, sondern paradoxerweise für ungleichere Chancen. Sie sind zum Teil wunderbare Angebote der glücklichen Teilhabe, doch meist für die Teilhabe der ohnehin Bessergestellten. Sie lösen unser Problem nicht.
Handelt es sich letztlich nicht bloß um die Erhaltung der bürgerlichen Kultur für Bürgerkinder, um eine Verschönerung der Lebensverhältnisse und eine Steigerung der künftigen Lebensqualität einer ohnehin gut ausgestatteten bürgerlich-traditionellen Elite? Das können die Angehörigen dieser Eliten doch auch allein. Dazu benötigen sie keine Hilfen.
Um die Frage zu beantworten, und vor allem um sie gegen den Schein der Verteilungsgerechtigkeit positiv, d.h. mit einem: ja, es lohnt sich! zu beantworten, muss das Argument für die ästhetische Bildung gegen die Erwartung aus dem Kontext der kulturellen Tradition gelöst werden, dem sie entstammt, und in den Kontext der Kompetenzdebatte eingefügt werden, die den modernen Diskurs über Schulentwicklung bestimmt. Wir müssen uns mit der Paradoxie auseinandersetzen, dass die Traditionsverluste, die durch Rationalisierung, Modernisierung, Effizienzorientierung im Schulsystem hervorgerufen wurden, von den selben Kräften herbeigeführt werden, die das Schulsystem, die Lernprozesse und die Evaluierungsstrategien der Schule auf konstruktives Lernen und Kompetenzerwerb umstellen.
Orientierung des Lernens an Kompetenzen am Lernprozess
Die Modernisierungsprozesse, die PISA erzeugen und mit PISA Druck auf das Schulsystem ausüben, dem mit den alten Zöpfen auch dessen produktive Momente zum Opfer fallen, diese Modernisierungsprozesse setzen auch einen produktiven Zug in Bewegung, der die dominante Stellung von Reproduktion und Gedächtnisinhalten durch eine Orientierung an konstruktiven Lernprozessen und Kompetenzerwerb ersetzt. Das ist ein Prozess mit hohen Kosten, erheblichen Verlusten, aber auch mit bedeutenden Chancen.
Um die Chancen einschätzen zu können, müssen wir Verständnis für Struktur und Prozesse des Kompetenzerwerbs gewinnen.
Wir müssen begreifen, was die Orientierung des Lernens an Kompetenzen am Lernprozess verändert. Wir müssen verstehen, was sich an der Schule insgesamt, und damit an den Chancen der weniger Privilegierten ändert, wenn die Organisation der Lernprozesse entsprechend ihren Bedürfnissen durch eine andere Zeitstruktur der schulischen Prozesse, durch ein anderes Zeitregime transformiert würde. Die allgemeine Frage nach Struktur und Inhalt von Kompetenzen als Ziel von Lernprozessen wirft nun die besondere Frage nach dem Sinn ästhetischer Bildung im Kontext einer Pädagogik des Kompetenzerwerbs auf. Schließlich erhebt sich die Frage nach der Ganztagsschule als Gelegenheitsstruktur, als window of opportunity, für eine solche Pädagogik. Erneut muss ein komplexer Sachverhalt sehr verkürzt in groben Strichen dargestellt werden.
Kompetenz ist der Schlüsselbegriff
… der Begriffe wie Intelligenz, Leistung, Lernergebnis als Bezeichnungen für das erwünschte Ziel von Lernprozessen und schulischen Maßnahmen zunehmend ablöst. Für die OECD hat Franz E. Weinert die geltende Definition erarbeitet, nach der Kompetenz als Ergebnis von Lernprozessen an der komplexen Fähigkeit gemessen wird, situierte Aufgaben und Herausforderungen handelnd und problemlösend zu bewältigen. Dabei greift der Handelnde verstehend auf das vorhandene Wissen zurück, doch dies erfolgt an dem Ziel orientiert, auf eine Herausforderung eine Antwort, für ein Problem eine Lösung zu finden, für die die dafür jeweils erforderlichen Fertigkeiten eingesetzt werden müssen. Dazu gehören nicht zuletzt Willensleistungen, emotionales Engagement und Wertschätzung– also Motivationen, welche die Wirksamkeitsüberzeugungen des handelnden Subjekts mobilisieren, den Willen, die Lösung zu schaffen: All dies zusammen ist erforderlich, um eine Aufgabe zu meistern, d.h. eine spezifische Handlungsanforderung in einer gegebenen Situation konstruktiv zu bewältigen.
Sicher haben gute Lehrer auch bisher immer wieder kompetenzorientierten Unterricht erteilt!
Das ist doch ziemlich weit weg von unserem herkömmlichen Verständnis schulischer Testaufgaben, weit weg von der überwiegend gedächtnisgestützten Lösung der üblichen Schulaufgaben im traditionellen Unterricht. Sicher haben gute Lehrer auch bisher immer wieder kompetenzorientierten Unterricht erteilt! Doch das ist nicht der Alltag mit seinen Mühen der Ebene, mit der intensiv beklagten Langeweile in Stunden über Stunden konventionellen, meist frontalen Unterrichts. Kompetenz: das erinnert vielmehr an Kunst und an Können, das in Situationen der Herausforderung mobilisiert wird. Sicher dachte Prof. Weinert nicht an Herausforderungen des Theaters, des Konzerts, an das Spiel auf der Leinwand, an die Herausforderungen der sprachlichen Gestaltung beim Verfassen eines Gedichts. Auch die OECD denkt daran nicht, wenn sie ihren Katalog der Kompetenzen für die Schulen vorlegt, in dem folgende Schlüsselkompetenzen definiert sind: Selbstständig handeln können; symbolische Instrumentarien gebrauchen können; in heterogenen Gruppen erfolgreich handeln können. Und doch ist die OECD mit der Definition der Kompetenz und der Benennung der Schlüsselkompetenzen den Zielen und Zwecken, zugleich auch den Prozessen der ästhetischen Bildung ganz nahe gekommen, viel näher als die herkömmlichen Definitionen schulischer Leistung. Prozesse ästhetischer Konstruktion, des kreativen Handelns stellen geradezu prototypische Prozesse des Kompetenzlernens dar, das Wissen, Verstehen, Fertigkeiten, Motivation, Wertempfinden, Willensakte mobilisiert, um ein Werk, eine Leistung als Antwort auf eine situierte Herausforderung zu erbringen.
Konstruktiven ästhetischen Handelns einen Ausgangspunkt für erfolgreiches Lernen
Sofern dies der Prototyp des Kompetenzlernens ist, gibt es Hoffnung. Das ist zwar für eine progressive Grundschulpädagogik schon lange keine Nachricht mehr, wohl aber für die traditionelle Didaktik der weiterführenden Schulen und die vielen unterprivilegierten Kinder, die daran scheitern. Es stimmt überein mit dem Konstruktivismus der kognitiven Entwicklungstheorie Jean Piagets, mit der Theorie multipler Intelligenzen von Howard Gardner, mit den Traditionen der Schulreformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, mit der Konzeption des exemplarischen Lernens von Martin Wagenschein, mit dem entstehenden neurodidaktischen Paradigma eines in zeitlicher Gelassenheit entwickelten Erfahrungslernens. Wenn wir in diesem Sinne die Kompetenztheorie für die pädagogische Praxis ernst nehmen, dann verfügen wir über ein Instrumentarium des Chancenausgleichs, der Förderung, der Mobilisierung, der Generalisierung des Lernens, in dem der Prototyp des Kompetenzerwerbs im Kontext konstruktiven ästhetischen Handelns einen Ausgangspunkt für erfolgreiches Lernen allgemein bilden könnte – mit Chancen der Generalisierung über die unterschiedlichen Lernprozesse im Individuum, mit Chancen der Generalisierung im gemeinsamen Lernen von Individuen in Gruppen.
Deshalb brauchen wir die Ganztagsschule
Das würde Chancen bieten für die Entwicklung einer anderen Schule, für eine Lernkultur mit anderen Ergebnissen, die sich irgendwann in anderen PISA-Daten als bisher niederschlagen werden. Wenn die Schule über das 9. oder 10. Lebensjahr hinaus ein humaneres, ein kindgemäßes, entwicklungssyntones, lernförderliches, intelligenzangemessenes Zeitregime einführen würde, das in den heterogenen Gruppen einer Schule die unterschiedlichen Lernrhythmen der Kinder als gleichwertig anerkennt (different but equal), gäbe es vermutlich bald keine 20 Prozent von Schülern unterhalb der niedrigsten Kompetenzstufe im PISA-Test. Sie würden wie in den anderen vergleichbaren Ländern auf unterschiedlichen Entwicklungswegen entsprechend ihren Entwicklungsbedürfnissen gefördert und zumindest die Basiskompetenzen erwerben, die heute nahezu ein Viertel der Kinder anders als in anderen PISA-Ländern nicht erreicht, und mehr als heute würden höhere Kompetenzen erworben als ein Schulsystem zulässt, das die kulturelle Deprivation großer Gruppen duldet.
Deshalb brauchen wir die Ganztagsschule. Nicht weil die Ganztagsschule von heute auf morgen die Lösung unseres Problems bietet. Die Ganztagsschule verhält sich ja im Großen und Ganzen völlig konventionell, mit normalen Stundenabläufen und der regulären Zeitpolitik der traditionellen Stundentafel. Ausnahmen einer zukunftsfähigen Schule bestätigen vorerst noch die Regel. Doch die Ganztagsschule ist die Bedingung der Möglichkeit eines anderen Zeitregimes, in dem Individuen und Gruppen nach Prinzipien des konstruktiven Lernens nach dem Prototyp der ästhetischen Konstruktion rhythmisiert lernen, nach dem je eigenen zeitlichen Bedarf für eine Aufgabe gefördert werden können.
Die Ganztagsschule öffnet das Zeitgefängnis
Die Ganztagsschule, die das Zeitgefängnis öffnen könnte, ist heute noch eher eine Vision als die Wirklichkeit. Meist dient sie der bloßen Betreuung bedürftiger Gruppen über Mittag und am Nachmittag, die Lehrer erledigen den Unterricht am Vormittag und verlassen die Schule am Nachmittag im üblichen Stundentakt wie gewohnt am Mittag und überlassen sie am Nachmittag den AGs und dem Engagement von Sozialpädagogen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Das ist schön und gut und anerkennenswert, aber es ist nicht das, was wir brauchen.
Wir brauchen ein Zeitregime mit variablen Einheiten für unterschiedliche Bedürfnisse, in denen konstruktives Lernen nach dem Modell kreativen Handelns stattfinden kann – in dem Kinder lernen, Intelligenzen zur Wahrnehmung (=Aisthesis) der Welt einzusetzen, in dem sie Lernen als konstruktive Welterschließung erfahren können. Wir sollten ästhetische Bildung nicht so sehr als besondere Vorkehrung zum Erwerb künstlerischer Kompetenzen begreifen, sondern den Bildungsprozess im Modell eines ästhetischen Prozesses konstruieren. Die Kinder würden es uns danken. Die Gesellschaft wird dabei gewinnen, das kulturelle Leben der Menschen allemal; aber auch die Ökonomie.
Datum: 11.07.2007
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