Rhythmisiert statt durchgetaktet

(c) DKJS / D. Ibovnik
DKJS/D. Ibovnik

Ein gelungenes Rhythmisierungskonzept soll das Lernen erleichtern. Was aber bedeutet das konkret im schulischen Alltag? Wie gelingt der Wechsel von Anspannung und Entspannung, wie die inhaltliche Verzahnung? Ein Besuch an der Gustav-Falke-Grundschule, einer gebundenen Ganztagsschule in Berlin-Wedding.

Die Farbkästen stehen bereits auf den Tischen. „In der Freizeit habt ihr über Frau Holle geredet, ist das richtig?“, fragt Lehrerin Sabine Gryczke. Die Kinder der Klasse 1/2g nicken. Am Dienstag haben sie das Märchen als Rollenspiel aufgeführt – am Nachmittag, gemeinsam und unter Anleitung ihrer Erzieherin. „Freizeit“ steht an der Gustav-Falke-Grundschule kurz für den „Freizeitbereich“.
Im Kunstunterricht werden die Kinder also heute Deckweiß-Flocken schneien lassen. Wie ein typisches Frau-Holle-Bild aussehen könnte? Ganz oben sollte ein Haus mit Fenster zu sehen sein, das steht schnell fest. Dort schüttelt Frau Holle die Betten aus. Unten bauen die Kinder einen Schneemann. „Dann malt ihr am besten ein Hochformat“, schlägt Sabine Gryczke vor. Blaues Papier hat sie mitgebracht.

Kooperationsstunde für Lehrer und Erzieher

Jeden Donnerstag tauschen sich Lehrer und Erzieher in ihrer Kooperationsstunde über die Ereignisse in ihren Klassen aus und planen die kommende Woche. Für Sabine Gryczke stand also fest, dass sie im Kunstunterricht das Thema Frau Holle aufgreifen würde. „Wir müssen und wir wollen verzahnen“, sagt sie. Wenn das funktioniere, dann sei das für die Kinder sehr fruchtbar. Während sie zum Beispiel bei der Textarbeit versuche, gemeinsam mit den Kindern grammatikalische Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, habe ihre Kollegin mehr das Spielerische im Blick. Erzieherin Monika Ziemann nickt. „Es ist aber auch hilfreich für uns, wenn wir wissen, dass wir beim Singen heute mal auf die Verben achten könnten“, sagt sie. Da die Erzieherinnen und Erzieher zehn Stunden pro Woche mit im Unterricht sind, muss vieles nicht einmal kommuniziert werden.
„Die Zusammenarbeit kommt dem Unterricht enorm zugute“, findet Sabine Gryczke. Gleichzeitig habe die Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher einen anderen, einen ganz eigenen Wert. „So ein Team muss zusammenwachsen, aber wenn es erst mal funktioniert, dann ist es eine ungeheure Bereicherung, auch weil man sich austauschen kann und Rückmeldungen über die eigene Arbeit erhält.“

Der Rhythmus bestimmt den Tag

Im Jahr 2004 wurde an der Gustav-Falke-Grundschule der gebundene Ganztag eingeführt. Seitdem sind die Kinder – wie an den meisten gebundenen Ganztagsschulen – an vier Tagen in der Woche bis 16 Uhr in der Schule. Nur freitags gehen sie bereits am Mittag nach Hause. Das pädagogische Team der Gustav-Falke-Grundschule hat sich daher intensiv mit dem Thema Rhythmisierung auseinandergesetzt, unter anderem an fünf Studientagen. Kürzlich haben einige Kolleginnen und Kollegen sogar selber eine Fortbildung dazu angeboten, um Partnerschulen des Ganztagsschulnetzwerks Berlin an den eigenen Erfahrungen teilhaben zu lassen.

Rhythmisierung gilt als Zauberformel für den gelungenen Ganztagsbetrieb. Der Wechsel von Anspannung und Entspannung soll das Lernen erleichtern, die Lernmotivation erhöhen, die Aufmerksamkeit und generell die Freude am Lernen. „Rhythmisierung ist auch ein Instrument, um unterschiedliche Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten individuell zu fördern“, sagt Sabine Hüseman von der Serviceagentur ‚Ganztägig lernen‘.

Zusätzliche Stunden dank 40 Minuten

All das braucht Zeit. Die Gustav-Falke-Grundschule hat daher die Unterrichtsstunden von 45 auf 40 Minuten gekürzt. So wurden 3,5 Stunden pro Woche gewonnen, Schülerarbeitsstunden (SAS) und eine wöchentliche Klassenlehrerstunde konnten eingeführt werden. Individuelle Förderung, eigenverantwortliches Lernen und das soziale Miteinander stehen in den zusätzlichen Stunden im Vordergrund. Dass in dieser Zeit kein „normaler“ Unterricht stattfindet, entkräftete schließlich auch die Bedenken jener Lehrerinnen und Lehrer, die angesichts der erhöhten Stundenzahl Mehrarbeit befürchtet hatten.

Die Schulklingel wurde abgeschafft

Morgens um halb acht werden die Schultüren aufgeschlossen. Nach und nach begeben sich alle Kinder in ihre Klassen, packen ihre Hefte aus, tauschen Fußballbilder oder erzählen einander vom Vortag. Manche Lehrerinnen und Lehrer hätten befürchtet, bei nur einer Aufsicht pro Flur werde es in der halben Stunde bis Unterrichtsbeginn Mord und Totschlag geben, berichtet Schulleiterin Karin Müller. „Das Gegenteil ist der Fall, es ist bei uns seitdem sehr viel ruhiger und entspannter geworden.“
Auch die Schulklingel wurde abgeschafft. Sie würde auch gar keinen Sinn mehr haben – schließlich beginnen manche Klassen mit zwei Stunden Unterricht im Block, andere starten mit einem Morgenkreis oder einem gemeinsamen Frühstück in den Tag, während die Schülerinnen und Schüler in der Nachbarklasse nach 40 Minuten zu ihren Butterbroten greifen.
Nach der dritten und der fünften Stunde gibt es lange Bewegungspausen, die Mittagspause ist eine volle Stunde lang. Das weitläufige Schulgelände mit Kletterwand, Schulgarten, zwei Spielplätzen, zwei Turnhallen und einem Fußballplatz bietet ausreichend Raum und Anregung. Selbst an einem Wintertag wie diesem wird draußen gekickt, obwohl auf dem Fußballplatz vor lauter Schnee keine einzige Linie zu sehen ist. Auch die Schulbibliothek ist täglich ab zehn Uhr geöffnet.

Nachwuchs für den Tischtennis-Verein

„Wir bemühen uns sehr darum, den Wechsel von Anspannung und Entspannung zu erreichen“, sagt Karin Müller. An manchen Nachmittagen finde Unterricht statt, am Vormittag Soziales Lernen oder Projektunterricht. Trotzdem hätten schon die Kleinen einen vollen Tag. „Wir hatten gedacht, dass wir im Ganztag noch viel mehr Zeit für die Kinder und mit den Kindern haben würden“, bedauert die Schulleiterin, „man gewinnt zwar ein bisschen, aber längst nicht so viel, wie wir erwartet haben.“

Das sieht Frank Spitzenberger, der koordinierende Erzieher, ganz ähnlich. „Die Freizeit kommt oft zu kurz“, findet er. Entspannung sei wichtig im durchstrukturierten Tagesablauf, und sei es nur, indem man sich auf etwas vollkommen anderes konzentriere und sich nach dem Stillsitzen bewege. Beim Tischtennis etwa gelinge das gut. Im Raum 102 im großen Haupthaus rennen gerade sechs Jungen rund um die Platte. Frank Spitzenberger freut sich jedes Mal, wenn ihm ein Kind erzählt, dass es jetzt auch im Verein spiele. „Bei einem wusste ich genau, dass er hier zum ersten Mal einen Schläger in der Hand hatte“, sagt er. Ein anderer habe in der Schule Fahrradfahren gelernt, dazu habe er zuhause keine Möglichkeit gehabt.

Die Klassen 1/2 im Pavillon haben jeweils einen eigenen Freizeitraum, der ihrem Klassenraum gegenüber liegt. Im ersten Stockwerk des Hauptgebäudes teilen sich die Klassen 3 bis 6 fünf nebeneinander gelegene Freizeiträume. In einem steht die Tischtennisplatte, in einem anderen ein Billardtisch und zwei Tischkicker. Im Nachbarraum findet gerade die Bastel-AG statt, die Sofa-Ecke ist unbesetzt. Vier Mädchen schneiden Clowns aus buntem Tonpapier aus, mit denen sie die Fenster ihres Klassenzimmers verschönern wollen. Nebenan bauen gerade Kinder mit Lego-Steinen und unterhalten sich. „In der Lego-AG haben wir auch mal Zeit, miteinander zu reden“, sagt Erzieher Nils Schlenner. Mittlerweile zieht auch der Duft aus der Schulküche im Erdgeschoss durch die Flure. Die Koch-AG hat heute Hähnchen-Burger gebraten.

Ruheräume und Salatbar

„Ich habe das Gefühl, dass wir für alle Kinder eine Umgebung geschaffen haben, in der sie sich wohlfühlen“, sagt Schulleiterin Karin Müller. Trotzdem hat die Gustav-Müller-Schule noch viele Pläne. Als nächstes sollen zwei Ruheräume eingerichtet werden, die Matten dafür gibt es bereits. Karin Müller hofft, dass sich mit den Rückzugsmöglichkeiten im Haus die Atmosphäre in der Schule noch mal deutlich verbessern wird. Das habe sich bereits bei der Schulhofgestaltung gezeigt. Mit dem neuen Caterer wird eine Salatbar ins Haus kommen, auch das Mittagsband soll sich nochmals verändern. Fünf Projektgruppen und vier Jahrgangsgruppen arbeiten an der Schulentwicklung, der nächste Studientag steht vor der Tür, ein Schulversuch läuft.

„Manchmal merke ich erst im Gespräch mit anderen Netzwerkschulen, wie weit wir schon sind und was wir in den letzten zehn Jahren alles erreicht haben“, sagt Schulleiterin Karin Müller, die seit 1987 an der Schule ist.

Für besondere Aufmerksamkeit sorgte die Einführung der sogenannten Nawi-Klassen: Kinder, die sehr gut Deutsch sprechen, besuchen Klassen mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Für alle anderen ist der Deutsch-Förderunterricht ein fester Bestandteil des Stundeplans. Seitdem melden auch Eltern aus Alt-Mitte ihre Kinder an der Weddinger Schule an. Die Schülerzahlen steigen stetig. Die Gustav-Falke-Grundschule hat sich auf den Weg gemacht. Das nehmen auch andere wahr.

Text: Beate Köhne
Datum: 30.01.2014

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