Das Wie statt das Was!

 

 

 

Schüler lernen eine Lernumgebung zu entwickeln

Die Ernst-Moritz-Arndt-Schule in Greifswald erarbeitet eine neue Lernkultur

 

Was nach Spaß am Lernen aussieht, ist höchstwahrscheinlich das Ergebnis einer veränderten Lernkultur. Die Schule will untersuchen, inwieweit mit diesem Reformprojekt das Kompetenzlernen didaktisiert wird. Darüber hinaus wird getestet, wie sich der Vormittag mit dem Nachmittag verzahnt und wie die Online-Plattform SCHOLA-21 das selbstständige Lernen der Schülerteams unterstützt und individuelle Förderung vereinfacht.
Mit der Einbindung in das Labor Lernkultur ändern die Beteiligten ihre Sicht auf Lernziele. Nach einer Exkursion an die Berliner Grundschule im Grünen und in die Seminarräume der Lernwerkstatt an der Humboldt-Universität wird an der Greifswalder Schule über einen Pilotfall für den Unterricht diskutiert, um das ganztägige Lernen schülerorientierter zu gestalten.

Der konkrete Fall

 

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Die Konzeption sieht vor, dass der Physikunterricht der Klasse 6 mit einer Wochenstunde vom zweiten Halbjahr an um die Klassenleiterstunde ergänzt wird. In dem so entstehenden Zeitblock von 90 Minuten wird der Physikfachraum zu einer Lernwerkstatt umgestaltet. Ad hoc und jede Woche neu organisieren Schüler das in Eigenregie. Eine Kistenlandschaft wird sich vorerst an den Wänden des Klassenraums auftürmen. In diesem „Provisorium“ werden die Schüler mit einer Lernumgebung konfrontiert, die ihnen Teamarbeit und selbstständiges Lernen ermöglicht. Eine Forscherwerkstatt gibt es an der Schule noch nicht. Die Projektleiter gehen davon aus, dass das Interesse, die begonnenen Experimente und Modellarbeiten auch über die Werkstattzeit hinaus fortzuführen, stetig wachsen wird. Die Lernenden können sich bei Bedarf auch noch auf die anschließende und „fakultative“ Hausaufgabenzeit ausbreiten. Bereits jetzt ist man gespannt, ob dieses Angebot genutzt werden wird. Das Konzept bietet den Lernenden unterm Strich eine Gesamtzeit von 120 Minuten, um nicht nur zu forschen, sondern auch um Lernumgebungen zu „basteln“. Die Schülerteams organisieren sich über Laptops und die Online-Plattform SCHOLA-21. Dabei wird zum einen das selbstständige Lernen, zum anderen aber auch Medienkompetenz entwickelt.

In diesem Fall kooperieren Klassenleiterin und Physiklehrerin. Die Kooperation löst mehrere Probleme gleichzeitig: „Zum einen kann die beteiligte Klassenleiterin beim selbstständigen Lernen besser die soziale Entwicklung ihrer Kinder beobachten und auf der anderen Seite erhält das forschende Lernen mehr Platz. Mit einer Wochenstunde sind die Ressourcen zu eng bemessen, um eine Werkstatt wöchentlich und ein ganzes Schulhalbjahr lang zu inszenieren. Das hätte bedeutet, dass ich von Anbeginn und für 45 Minuten vorbereitend aufbaue. Das überfordert und wäre nicht nachhaltig gedacht. Nun ist Zeit, dass die Schüler das zur eigenen Angelegenheit machen“, stellt Physiklehrerin Renate Schmidt fest. Der Schulträger wird zwischendurch eingeladen, denn Schulleiterin Leddin hat dann ein gutes Anschauungsbeispiel für neue Zuwendungen, um vielleicht eine Forschungswerkstatt einzurichten.

Eine offene Ganztagsschule?

Die Ernst-Moritz-Arndt-Schule ist derzeit eine offene Ganztagsschule. Angela Leddin beschreibt, wie diese Organisationsform seit 2002 – also lange vor dem Trend zum ganztägigen Lernen – entstand. Aufgrund der demographischen Entwicklung musste die Ernst-Moritz-Arndt-Schule sich mit einer anderen Schule im Stadtgebiet zusammenschließen. Die zahlreichen Angebote aus einem ehemals zweihäusigen Schulalltag konnten unmöglich in nur ein Haus und nur einen halben Schultag „gepresst“ werden. „Wir wollten nichts vom Bewährten aufgeben!“, so Leddin. Damit wurde die Schule eine der ersten Ganztagsschulen in Mecklenburg-Vorpommern. Die Zusammenlegung war auch eine Fusion der Ressourcen. Im Labor Lernkultur möchte das Kollegium üben, einen teilgebundenen Ganztag vorzudenken. Positive Erfahrungen sollen die Elternschaft überzeugen, dieser Organisationsform zuzustimmen, bisher fehlt die Akzeptanz.

Offene Ganztagsschule versus Gebundene Ganztagsschule

Seit Beginn des Schuljahres 2009/2010 läuft im Kollegium die Diskussion, ob von der offenen Ganztagsschule in den teilgebundenen Alltag oder konsequenterweise gleich in eine gebundene Ganztagsschule zu wechseln sei. Eine entsprechende Umfrage unter Schülern und Eltern ergab, dass sich Letzteres nur 40 Prozent wünschen. Auf die Frage: „Was macht ihr Kind am Nachmittag?“, antworteten 60 Prozent der Eltern, dass die Kinder bereits „eingebunden“ sind. Schulleiterin Leddin begründet: „Unsere Schule liegt im Stadtzentrum! Das macht es den Eltern leicht, ihre Kinder in außerschulischen  Angeboten unterzubringen.“
Zur Stadtbibliothek und zur Kunstschule sind es nur einige hundert Meter, die Musikschule ist in 10 Minuten zu erreichen und Sportvereine sind, wenn auch nicht in die Schule, so doch in die schuleigene Sporthalle gezogen.“ Die Universitätsstadt ist seit jeher im Freizeitleben breit aufgestellt.

 

Die Schulkonferenz fragt dabei, warum sich eine Schule im Kern einer Stadt den Charakter einer gebundenen Ganztagsschule zulegen muss. Ein gebundener Ganztagsbetrieb würde nicht unweigerlich dazu führen, dass die Angebote auch in die Schule „rücken“. Leddin weiter: „Wir sind obendrein keine Brennpunktschule. Die Eltern sind sehr an einer guten Bildung ihrer Kinder interessiert und verfügen auch über Mittel dafür. Doch bleibt noch ein Drittel derer zurück, die sich das nicht leisten können.“ Mit dem Lernfall ergibt sich eine neue Aussicht durch einen veränderten Ansatz. Das obligatorische Kerngeschäft „Unterricht“ wird in den Nachmittagsbereich „gezogen“, das entspricht dem Ansatz eines gebundenen Ganztages.

Profilierte Medienschule

Der Ernst-Moritz-Arndt-Schule in Greifswald geht es vor allem auch um die Entwicklung von Medienkompetenz. „Das ist eine zukunftsnotwendige Kompetenz. Deren Entfaltung ist auch für uns ein Bildungsauftrag“, so Angela Leddin. Die Einbindung zeitgemäßer Medien wird im Kollegium seit langem thematisiert und im Unterricht gelernt und gelebt. Eine zurückliegende Ausstattungsinitiative ermöglichte die kostenfreie und umfängliche Anschaffung von Medientechnik. „Es war wichtig, dass unsere Kinder und Jugendlichen einen generellen Zugriff zum Internet und damit auf Wissen, Chancen zur Kommunikation und vor allem die produktiven Gestaltungsmöglichkeiten haben“, so Leddin.

Mit dem Engagement bei der pädagogisch sinnvollen und zeitgemäßen Mediennutzung profilierte sich die Schule zu einer Medienschule (laut Erlass des Bildungsministeriums in Mecklenburg-Vorpommern zur „Multimedia-Schule“). Konkret werden Online-Plattformen wie SCHOLA-21 konsequent im Sprachunterricht eingebunden, wodurch sich nicht nur schulpartnerschaftliche Kontakte nach Neuseeland, Malta und Bulgarien entwickelten, auch der Mathematikunterricht wurde „aufgemöbelt“. In einem offenen Lernszenario untersuchten Schüler der 7. Klasse mathematische Phänomene in der eigenen Stadt. Das Beispiel machte Schule und begeisterte Fachlehrerin Renate Schmidt für die erneute Nutzung einer Online-Plattform im Labor Lernkultur. Der Fall „Matheforscher“ ist in der Arbeitshilfe 12 dargestellt.

Mit der Initiative „Schulen ans Netz“ wurde das online-gestützte Sprachenlernen mit dem begehrten „Etwinning-Siegel“ ausgezeichnet. Schulleiterin Leddin ist überzeugt, dass die Schule die Verantwortung dafür trägt, dass Kinder und Jugendlichen lernen, im Netz zu lernen und sie die sich ergebenen Möglichkeiten sinnvoll und kreativ zu nutzen verstehen. Nach ihrer Meinung ist das Internet ein Freizeit- und Lebensraum geworden, der auch in der Schule ausreichend Beachtung finden sollte.

Umgang mit „Raum“ – an dieser Schule der 4. statt der 3. Pädagoge

Die Qualität des Lernens, die sich durch den `dritten Pädagogen`, nämlich den organisierten Netzzugang ergibt, zieht die Qualität eines vierten Pädagogen nach sich: „Raum“. Im normalen Sprachgebrauch wird diese Ressource meistens an die dritte Stelle gerückt. An der Ernst-Moritz-Arndt-Schule Schule wurde Raum erst nach einer bereits entwickelten Qualität im Umgang mit Lern- und Medienkultur „mitgedacht“. Das war eine Ressourcenfrage, aber auch eine Frage der Einsicht. „Die Projektmodelle haben uns zunächst gezeigt, wo die räumlichen Grenzen liegen“, meint Schulleiterin Leddin.

Mit der Einsicht zog ein mobiles Klassenzimmer in die Schule. Dieses kann in allen „Ecken“ und „Freiräume“ ausgerollt werden und flexibilisiert den Zugriff auf „freie“ Lernorte. Im Programm „Schulen ans Netz“ diskutierten die Lehrkräfte den mobilen Umgang mit ungenutztem Raum vor allem mit anderen Schulen im Bundesgebiet. Auf Anregung der Regionalen Serviceagentur entwickelte das schuleigene Qualitätsteam ein Raumkonzept. Mit diesem erschlossen sich die Lehrkräfte Möglichkeiten für individuelle Lernzonen. Die mobile Möbelausstattung passt sich mittlerweile dem Methodenrepertoire der Lehrkräfte an und zieht den Lernkonzepten sozusagen hinterher. Darüber hinaus unterstützen Medienecken, ein mobiles Laptop-Set und Medienfachkabinette den differenzierten Unterricht.

Die Stadt Greifswald greift mit einem intelligenten Konzept den Ganztagsschulen unter die Arme. Ein nach seinem Zweck benannter Verein „Öffnung der Schule e.V.“ (ÖdS) bietet Personal und Profession, um neben dem Fachunterricht eine ganztägige Betreuung auf hohem Niveau zu bieten. Betreuungsengpässe werden dadurch behoben. Jetzt braucht die Schule nur noch eine eigene und nicht unbedingt mobilisierte Lernwerkstatt.

Schulinterne Teamarbeit für Qualitätssteigerung

 

„Vertikal organisieren wir uns in Jahrgangsteams und horizontal in Fachschaften. Daraus ergibt sich ein stabiles Netz für schulinterne Kooperation. Für den Austausch gibt es verbindliche `Teamzeiten` und damit wird dieser zum Alltagsgeschäft“, meint Leddin. Aus den bestehenden Teams hat sich eine Steuergruppe gegründet. Als „Qualitätsteam“ (Q-Team) wird in diesem Gremium über alle Bereiche, also Unterricht, Personal und Organisation diskutiert und abgestimmt. Kernthema ist seit längerem die Individuelle Förderplanung. „Schon längst bevor unser neues Schulgesetz die individuelle Förderplanung festlegte, haben wir damit begonnen.“ Die Initialzündung wurde durch die Initiative „Längeres gemeinsames Lernen (LgL)“ gelegt. Seit 2006 nimmt die Schule ganze Grundschulklassen auf und alljährlich zieht eine heterogene Klassengemeinschaft neu in die Schule ein. Das Kollegium wurde auf diese Herausforderung durch eine intensive Qualifizierung vorbereitet, u.a. sind dadurch Impulse zur individuellen Förderung in das Kollegium getragen worden. Seitdem entwickelt die Schule eigene Instrumente der Förderplanung. Die Vorlagen werden in der Konzeption des Projekts Labor Lernkultur erneut geprüft und fortentwickelt.

Aus Quellen schöpfen

Da die heutige Ernst-Moritz-Arndt-Schule in Greifswald bereits das Ergebnis einer Zusammenlegung zweier Schulen ist, genießt sie in den kommenden Jahren einen gewissen „Bestandsschutz“. Das zieht nach sich, dass jährlich neue Kollegen an die Schule entsendet werden, um pensionierte Lehrkräfte zu ersetzen, aber auch um die wieder wachsende Schulgemeinschaft zu verstärken. Pädagogen, die an ländlichen Schulen gearbeitet haben, finden eine Stelle im Stadtgebiet. Schulleiterin Leddin sieht gerade in dieser Zuwanderung neue Potentiale. Ihrer Meinung nach bringt jeder neue Kollege Expertise mit. In den ersten Gesprächen forscht sie nach den Erfahrungen aus dem vorherigen Arbeitsumfeld. „Genauso sehen wir die Beteiligung am Labor. Wir freuen uns über den Austausch über Stadt- und Landesgrenzen hinweg.“

Dr. Sabine Schweder betreut die Schule seit Beginn des Schuljahres und hat auch die Entwicklung einer tragfähigen Konzeption für das Labor Lernkultur unterstützt. Als Projekt- und Mediendidaktikerin will auch sie von dem Pilotprojekt lernen. „Die Begeisterung, die sich auf beiden Seiten einstellt, lädt das Engagement auf. Meine Rolle besteht darin, die Kollegen zu bestärken, mutig zu sein und tatsächlich quer zu denken. Dabei lerne ich an der Schnittstelle zwischen Schule und Beratersystem und sorge für den Transfer an andere Schulen.“ Aus ihrer Sicht braucht es immer auch Impulse bzw. Signale von außen, „um zu dürfen, es aber auch besser zu können!“

Schüler werden Betreuer von Lernumgebungen

„Denken Sie doch mal an ganz andere Ziele. Lassen Sie ihre Schüler nicht nur Ergebnisse präsentieren, sondern ermuntern sie die, ihren Mitschülern die Lernerfahrungen zu ermöglichen, die sie selber hatten. Bewerten sie, wie ein Schülerteam eine Lernumgebung arrangiert“, empfahl Prof. Hartmut Wedekind von der Humboldt-Universität und seiner dort angesiedelten Grundschullernwerkstatt. „Mit diesem Hinweis veränderte sich mein Verständnis von Lernzielen um 180 Grad“, stellt Renate Schmidt nach dem persönlichen Gespräch fest. Sie ahnt, welche Motivation sich bei den Schülern aufbaut, wenn sie am Ende ihres eigenen Forschens ein Lernkonzept für die Mitschüler abgeben sollen. „Damit orientieren wir selbst den Schüler auf das `Wie`, statt auf das `Was` und das Kompetenzlernen ist didaktisiert“, freut sich Heike Kehl als Klassenleiterin und Projektbeteiligte. Schulleiterin Angela Leddin: „Ganztägiges Lernen fordert eine abwechslungsreiche Lernkultur. Die Schüler stehen im Mittelpunkt und werden „Regisseure des eigenen Lernens“. Das gelingt vor allem durch einen abwechslungsreichen und schülerorientierten Unterricht.“

 

Heike Kehl und Renate Schmidt diskutieren mit Prof. Hartmut Wedekind

 

Datum: 31.01.2010
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