Viele Wege führen zur Qualität

Wie Sachsens Schulen Ganztagsangebote mit Qualität gestalten
 

Es herrscht gespannte Stille im Internationalen Congress Center Dresden. Auf der Bühne haben Jugendliche in Jeans und weißen T-Shirts Platz genommen. Schwungvoll stimmt die Bläserklasse der Mittelschule Oelsnitz die Zuschauer für den beginnenden Tag. Über 800 Menschen sind zusammengekommen, um sich über Ganztagsangebote auszutauschen, Anregungen von Experten mitzunehmen und mehr darüber zu erfahren, was eine gute Schule ausmacht.

Die Mittelschule Oelsnitz, deren Schüler ihr Können gerade auf der Bühne präsentieren, ist so eine. 2005 baute sie als eine der ersten in Sachsen Ganztagsangebote auf. Heute sind sie stolz darauf, vor allem auf ihre Bläserklassen. „Selbst ich habe nicht geglaubt, dass man eine ganze Instrumentenklasse im Klassenverband unterrichten kann“, räumt der Musiklehrer ein. Mittlerweile gibt es sogar fünf davon. „Die Beschäftigung mit der Musik fördert die Konzentrationsfähigkeit. Es gibt keine Sitzenbleiber in den Orchesterklassen“, schwärmt der Musiklehrer. Sein größter Wunsch für die Zukunft: Ein zweiter Kollege, der Musik unterrichtet.

 

Lob für die Lehrer

Prof. Dr. Roland Wöller hält sich nicht mit Wünschen auf, er hat eine Vision: Beste Bildung für Sachsens Schüler will der sächsische Staatsminister für Kultus. Seit 2005 hat sich die Zahl der Schulen mit Ganztagsangeboten von 170 auf 1080 mehr als versechsfacht. Wöller ist beeindruckt vom Engagement der Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler. Quantitativ hervorragend aufgestellt soll in Sachsen nun der Schwerpunkt auf der Qualitätsverbesserung liegen. Sein Versprechen, dass sich sein Haus mit Hilfe der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung auch in diesem Jahr mit voller Kraft dafür einsetzen wird, die Qualität der Ganztagsangebote voranzubringen, erntet Applaus.

Eigentlich wollte auch Bundesbildungsministerin Annette Schavan zum Kongress kommen, das klappte aber leider nicht, sie schickte aber eine Videobotschaft. Dresden stehe für Bildungspolitik von morgen, so Schavan. Während in Deutschland jede fünfte Schule Ganztagsangebote bereit stellt, seien es in Sachsen zwei von drei. Sie überbringt die gute Botschaft, dass das Investitionsprogramm zur Entwicklung, Förderung und Beratung von Ganztagsschulen weitergehen wird. „Alle guten Wünsche nach Dresden zum Forum für zukunftsweisende Bildung in Deutschland“, schickt Schavan von Berlin an die Elbe.

Auch die Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS), Dr. Heike Kahl, kann davon berichten, dass Sachsen ein besonders Land ist, wenn es um Bildung geht. Es nimmt jährlich 30 Millionen Euro für die Entwicklung von Ganztagsangeboten in die Hand. Und es hat dafür gesorgt, dass die neuen Angebote von Anfang an evaluiert und kontinuierlich verbessert wurden. „Man hat sich geweigert einfach anzufangen, bevor es ein vernünftiges Schulkonzept gab“, lobt Kahl den bedächtigen Weg, den man hier gegangen ist. In der Unterstützung und Beratung von Schulen mit Ganztagsangeboten bringt die DKJS Erfahrungen aus 15 Bundesländern ein.

In der anschließenden Pause informieren sich die Teilnehmer über die unterschiedlichen Wege, die Schulen gegangen sind, um für bestmögliche Bildung zu sorgen. 29 ausgewählte Schulen präsentieren sich im licht durchfluteten Congress Center. „Schön, wenn man auch mal vom Minister ein Feedback bekommt“, erklärt Annette Flechsig auf die Frage, wie ihr die Vorträge gefallen haben.

 

Vielfältige Schullandschaft

Beeindruckt von der Bläserklasse, die sie so schwungvoll in den Tag gebracht hat, interessieren sich viele Besucher für die Pestalozzi-Mittelschule, die ihren Orchesterunterricht klassenübergreifend gestaltet. „Das ist eine logistische Meisterleistung“, seufzt Kerstin Kleindienst. Zusätzlich zu den zwei Stunden im Orchester erhalten die musizierenden Schüler eine Stunde individuellen Unterricht. Für die besten gibt es zusätzliche Förderung, etwa um sie auf „Jugend musiziert“ Wettbewerbe vorzubereiten. Eine Mitarbeiterin der Sächsischen Staatskanzlei möchte wissen, wie die Pestalozzi-Mittelschule die Kooperation mit der Musikschule gestaltet. Auch wenn man die nur als gelungen bezeichnen kann: Ohne ehrenamtliche Stunden der Lehrer geht es nicht, berichtet Kleinschmidt über ihr Engagement.

Staatsminister Reinhold Wöller macht in Begleitung mit Heike Kahl von der DKJS einen Rundgang durch die Ausstellung. Er unterhält sich lange mit zwei Schülern der Förderschule Flöha. Sie sind in der Film-AG und drehen heute eine Doku über den Kongress. Schuleiter Frank Richter berichtet über die anderen 24 AG-Angebote seiner Schule, die vom handwerklich-praktischen übers künstlerisch-kreative bis hin zu sportlichen Aktivitäten reichen. „Sie haben ein sehr vielfältiges Profil“, lobt Wöller. „Wir sind auch ein bisschen stolz“, gibt Richter zu. Als eine der ersten Förderschulen erhielt Flöha im Jahre 2000 das Gütesiegel „Sportfreundliche Schule“. 2007 kam „Sichere und bewegte Schule“ dazu. Richter lobt die „perfekte Zusammenarbeit mit der DKJS“. Jeder Cent, den sie bekommen hätten, sei gut angelegt.

Um Silke Huge am Stand der Grundschule Niederlößnitz, Radebeul hat sich eine Traube von Menschen gebildet. „Früher hatten wir sechs Horte. Jetzt haben wir einen, mit dem wir zusammenarbeiten. Das hat eineinhalb Jahre gedauert, bis es soweit war“, erzählt Huge den umstehenden Kollegen. Für sie ist der Kooperationsvertrag mit dem Hort nur ein Meilenstein, auf den weitere folgen werden. In Zukunft wollen sie die Zusammenarbeit zwischen Erziehern und Lehrern verbessern. Bislang war es so, dass eine Lehrerin am Nachmittags beispielsweise eine Handarbeits-AG angeboten hatte, die dann das ganze Jahr über stattfand. In Zukunft sollen die Erzieherinnen die Angebote der Lehrerinnen koordinieren und sich überlegen, was wie lange sinnvoll ist.

„Nichts ist schlimmer als im eigenen Saft zu schmoren“, meint Harald Bormann, Leiter der Mittelschule Koetzig in Coswig. Er schätzt die Bestätigung und Anregungen, die ihm der Kongress bietet. Auch er hat Berichtenswertes aus seiner Schule mitgebracht. Seit einiger Zeit wird dort tiergestützte Therapie mit Alpakas angeboten. Besonders Schüler mit sozio-emotionaler Problematik profitieren davon. Seine Kollegin Andrea Marby berichtet: „Ich habe einen Schüler, der daran teilnimmt. Er ist ruhiger, ausgeglichener und zugänglicher geworden.“ Die Eltern nehmen das Angebot gerne an. Eine Mutter berichtete erstaunt: „Das ist nicht mein Kind, es ist ganz anders geworden!“.

Am Karl-Schmitt-Rotluff-Gymnasium in Chemnitz haben sie 2006 mit dem Ganztag begonnen. Lehrerin Andrea Röbler berichtet: „Im Großen und Ganzen wird das Angebot gut angenommen, nur bei den Hausaufgaben hakt es noch“. Die Betreuung erfreut sich bei den Eltern zwar großer Beliebtheit, aber ihre Kinder gehen lieber spielen. „Wir brauchen einen extra Raum für die Hausaufgaben, in dem sich die Kinder und Jugendlichen wohl fühlen“, ist Röbler überzeugt. Außerdem möchte sie Lernverträge mit Eltern und Schülern vereinbaren.

 

Von Qualitätsbaustellen und anderen Kinderkrankheiten

Das Thema interessiert auch andere, am Nachmittag ist ihm ist ein ganzer Workshop gewidmet. Doch vorerst stellt Professor Hans Gängler von der Technischen Universität Dresden seine Forschungsbefunde vor. Er hat die Meinungen von Schülern und Eltern über Ganztagsangebote in Sachsen erhoben und herausgefunden, dass die Mehrheit der Eltern (93,8 Prozent) insgesamt zufrieden ist. „Schulen denen es gelingt, eine Kultur der Kommunikation und Partnerschaft zu etablieren, haben die zufriedeneren Eltern“, stellt er fest. Allerdings stieß Gängler auch auf „Qualitätsbaustellen“, wie zum Beispiel die Essensversorgung. Entsprechend rückläufig ist die Teilnahme an der Schulspeisung. Die meisten Schüler essen zu Hause Mittag oder bringen Essen von dort mit.

Interessant war natürlich auch, wie die Schüler die Ganztagsangebote beurteilen. Sie durften Noten vergeben. Die Grundschüler vergaben eine 1,46, die Mittelschüler eine schon weniger begeisterte 2,19 und die Gymnasiasten bewerteten mit 1,89. Zu denken gibt, dass die Schüler bislang offenbar nur wenig mitbestimmen dürfen, am meisten noch bei der Art der Ganztagsangebote, am wenigsten im Unterricht. Entsprechend gedämpft ist ihre Begeisterung: 44,3 Prozent gehen gern oder sehr gern zur Schule, 44,4 Prozent sagen: geht so.11,3 Prozent gehen nicht so gern oder gar nicht gern zum Unterricht. Zu denken gibt auch, dass sich beim Ausbau vieler Ganztagsangebote das Verhältnis von   Pause zu Unterricht zu Ungunsten der freien Zeit verringert. „Wenn wir über Qualität reden, vergessen wir die Qualität der Pausen nicht“, appelliert Gängler. Wenn bei Sieben- oder Achtjährigen das Verhältnis 1 zu 0,15 laute, sei das nicht förderlich.

Beim anschließenden Mittagessen ziehen einige Teilnehmer Zwischenbilanz: „Die statistische Auswertung war nicht das was ich erwartet habe“, gibt Heide Suk zu. Sie ist Prozessmoderatorin bei der Sächsischen Bildungsagentur und sagt: „Wir wissen auch ohne statistisches Material, dass die Schulspeisung eine Baustelle ist.“ Dafür gefällt ihr die Atmosphäre beim Kongress: „Toll, wie im letzten Jahr. Die Möglichkeit, mit anderen ins Gespräch zu kommen, ist ein großes Plus“. Eine Freizeitpädagogin findet besonders interessant „was die Schulen ausgestellt haben weil man so sieht, was andere machen“.

Jede Schule muss ihren eigenen Weg finden

„Wie geht es mit der Förderung von Ganztagsangeboten weiter?“. Diese Frage wird Martina Jahn von der Servicestelle Ganztagsangebote in Dresden und Wolfgang Markert von der Regionalstelle Chemnitz häufig gestellt. Heute stehen die Beiden im  Beratungszirkel Rede und Antwort. „Frau Jahn sagt ihnen was möglich ist, Ich sag ihnen was gestrichen wird“, scherzt Markert. Er entscheidet darüber, ob ein Antrag bewilligt oder abgelehnt wird. Dabei muss er zwischen Antragsvolumen und Fördergeldern einen Konsens finden. Denn der Erfolg der Ganztagsangebote hat eine Schattenseite: Die Summe von 30 Millionen Fördergeldern jährlich hat sich nicht geändert, dafür hat die Zahl der Antragsteller zugenommen. Markerts Credo: Nur was gut ist, wird bewilligt. Gut sind Konzepte, die Schulen einen Nutzen bringen und die der Förderrichtlinie entsprechen. Es sind Konzepte, die Schüler in den Mittelpunkt stellen. Jede Schule muss ihr eigenes entwickeln. Wie viel Arbeit das macht, haben die meisten der rund 80 Teilnehmer im Beratungszirkel bereits selbst erfahren. „Die Koordinatoren für Ganztagsangebote müssen nicht alles selbst machen“, tröstet Markert. Eine Teilnehmerin ist anderer Meinung: „Wir können die Antragstellung nicht einfach an externe Kooperationspartner weitergeben, das sind Elemente des Schulkonzepts“. Sie fordert mehr Anrechnungsstunden für GTA-Koordinatoren.

In Bewegung bleiben und dabei auch noch die Balance halten

Auf der Bühne rollen große Bälle über den Boden, fliegen Jojos und Teller durch die Luft, schlagen Mädchen Rad und flitzen mit Einrädern umeinander herum. Zu sehen ist eine Darbietung von „Zirkus in der Schule“, ein Projekt, das sich Schülerin Anne-Sophie für ihre Schule am Burgteich in Zittau ausgedacht hat: „Weil man Abwechslung bekommt von den vielen Stunden und von den Lehrern, man kann seine Grenzen anders feststellen“, erklärt sie ihre Motivation dafür.

Der emeritierte Professor Dr. Hans-Günter Rolff ist beeindruckt. Er wird über Gelingens- und Misslingensbedingungen von Schulentwicklung referieren, doch die Schülerinnen und Schüler auf der Bühne haben mittels Körpersprache eigentlich schon alles über Schulentwicklung gesagt: „Sie funktioniert nur in Teams. Oben ist mal unten und unten ist mal oben. Man muss in Bewegung bleiben, aber auch in Balance. Es gibt große und kleine Sprünge und manchmal muss man auch einen Purzelbaum schlagen“, fasst Rolff das Gesehene zusammen und räumt ein: Schulentwicklung sei allerdings nicht ganz so elegant, es werden mehr Fehler gemacht und es gebe auch nicht so viel Applaus.

Wer sich am Nachmittag des Kongresses immer noch fragte: was eine gute Schule ist, dem gibt Rolff die Definition der OECD zur Antwort: Demnach ist eine gute Schule eine Schule, die zu Leistungszuwächsen führt. Lernfortschritte sind nämlich alles andere als selbstverständlich. So fiel bei einer Studie in Hamburg auf, dass die untersuchten Schüler zwischen der 7. und der 9. Klasse in Lesen und Mathematik fast nichts dazu lernten.

 

Gute Schulen brauchen gute Lehrer

Wie aber wird man eine gute Schule? Laut Rolff legen Erkenntnisse der Schuleffektivitätsforschung nahe, sich um die Weiterbildung von Lehrern zu kümmern, weil der Erfolg der Schüler in hohem Maße von der Erfahrung und den Fähigkeiten ihrer Lehrer abhängt. Gute Lehrer sorgen dafür, dass die Stunde pünktlich beginnt, sie strukturieren ihren Unterricht und informieren die Schüler über das Ziel der Lerneinheit. Neben einer starken pädagogischen Führung sorgt die Betonung auf Basisfähigkeiten für Lernerfolg, was besonders in den alten Bundesländern vernachlässigt wurde. Zudem brauchen Schüler eine ordentliche und sichere Lernumgebung, die frei von Ablenkung ist. Lehrer brauchen diagnostische Fähigkeiten, um einschätzen zu können, was sie von Schülern erwarten können. Relativ hohe Erwartungen an Schülerleistungen sind laut Rolff nämlich förderlich, aber sie dürfen auch nicht überfordern.

Rolff ist sich der schwierigen Aufgabe von Schulentwicklung durchaus bewusst. Veränderungen gehen nicht immer gut, in der Wirtschaft gehen sogar 70 Prozent der Umstrukturierungen schief. Schulen scheitern an folgenden Gründen: 1. Der Schulleiter macht alles selbst, 2. Schulleiter macht überhaupt nichts, 3. Der Fokus liegt nicht auf  Unterrichtsentwicklung, 4. Es herrscht keine Feedbackkultur, 5. Niemand wird zur Verantwortung gezogen, für das was er tut oder lässt.

Neben all den Faktoren, die sich messen und untersuchen lassen, gibt es zwei, die sich dem Wissenschaftler entziehen: Energie und Leidenschaft. Rolff war gerade auf einer Konferenz der Dortmunder Grundschulleiter als sich dort die Nachricht verbreitete, dass die Grundschule Kleine Kielstraße den Deutschen Schulpreis gewonnen hatte. In der Runde herrschte betretene Stille. „Was die machen, machen wir doch auch“, sagte schließlich einer. Und trotzdem, so Rolff, bekam die Schule den Preis zu Recht: „Man merkt es, wenn man dort hereinkommt. Es ist die Stimmung und der Geist, der dort herrscht. Es sind die Menschen, die überzeugt sind: Wenn wir nur wollen, dann können wir.“

Nicht zu früh zufrieden geben

Zwei, die diesen Kongress organisierten, verabschieden die Teilnehmer am späten Nachmittag. Martina Jahn vom Sächsischen Staatsministerium für Kultus und Volker Schmidt von der Regionalen Serviceagentur Sachsen sind beeindruckt vom Engagement der vielen Menschen, die sie heute wieder getroffen und kennen gelernt haben. Und wer weiß? Vielleicht gewinnt ja eine Schule aus Sachsen einen Preis beim Wettbewerb „Zeigt her eure Schule. Qualität im Alltag“. Gefragt sind gute Ganztagsschulen, „in denen sich große und kleinere Menschen nicht mit dem Stand der Dinge zufrieden geben, sondern danach schauen, in welchen Feldern sie noch besser werden können“. Sachsen dürfte  einige davon haben.

 

Datum: 23.04.2009
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