DKJS 2018

Individualisiertes Lernen wirkungsvoll gestalten

Moderation: Volker Wieprecht

 

Zu den Kernanforderungen an gute Ganztagsschule gehört inzwischen, in individualisierten Lernsettings den Kompetenzerwerb von Schülerinnen und Schülern zu fördern. Trotz vieler guter Praxisbeispiele bleiben bei der Umsetzung von individualisiertem Lernen zahlreiche Herausforderungen bestehen: Zum einen für die Pädagoginnen und Pädagogen, die diese Lernsettings gestalten, zum anderen für die Unterstützungssysteme, die die Fachkräfte hierfür qualifizieren und begleiten. Wie können individualisierte Lernsettings Schülerinnen und Schüler beim Kompetenzerwerb unterstützen? Und welche Qualifizierung benötigen Pädagoginnen und Pädagogen, um diese Settings zu gestalten?

Prof. Dr. Katrin Höhmann und Prof. Dr. Josef Keuffer nahmen aus verschiedenen Perspektiven Bezug.

 

Die Inputs

Prof. Dr. Josef Keuffer, Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) in Hamburg, nahm Bezug auf die Anforderungen der Lehrerbildung, insbesondere in der 2. und 3. Phase. Das Institut für Lehrerbildung und Schulentwicklung macht Angebote in der Ausbildung und Fortbildung von Lehrkräften und Beratung von Schulentwicklungsprozessen. Zu den Entwicklungsthemen in Hamburg gehört der Umgang mit Heterogenität. Dies ist erklärte Aufgabe der Lehrerbildung und der Schulentwicklung.

Was befähigt Pädagoginnen und Pädagogen, Lernsettings gemäß aktueller Anforderungen zu gestalten?

Hamburg hat den Vorteil, im Gegensatz zu anderen Ländern, jeder Lehrkraft Fortbildungen im Umfang von 30 Stunden pro Schuljahr anbieten zu können. Diese 30 Stunden sind verpflichtend. Die Angebote werden ständig weiterentwickelt – mit besonderem Blick auf die Anforderungen im Ganztag. Deutlich mehr Fortbildungen finden schulintern statt. Ein Schwerpunkt wird auf Beratungen zur Schulentwicklung gelegt und Fortbildungsanfragen und –angebote immer in den größeren Kontext von Schulentwicklung gesetzt. Bei den Schulentwicklungsberatungsgesprächen gibt es unterschiedliche Formen der Verbindlichkeit. Im Projekt 23+ z. B. ist Beratung für die Schulen verbindlich. „Die Unverbindlichkeit hat sich nicht bewährt“, sagte Josef Keuffer. Aber der Erstkontakt und die Erstberatung seien zunächst unverbindlich.

Die Entwicklungen im Ganztag hätten entscheidend dazu beigetragen, den Fokus der Angebote des Instituts zu verlagern: weg von Fachfortbildungen hin zu Themen wie innere Differenzierung, die dringend benötigt wird im Ganztag, oder Partizipation, die über interne Fortbildungen in die Schulen hineingetragen werden. Dass das auch gelingt, zeigen die positiven Rückmeldungen der Lehrkräfte, sagte Josef Keuffer.

 

Ausbildung für den Ganztag

An Frau Prof. Dr. Höhmann gewendet meinte er, dass die angehenden Lehrkräfte an den Hochschulen noch nicht ausreichend vorbereitet werden. „Ganztag kommt nicht vor, höchstens gelegentlich bei einzelnen Veranstaltungen“, kritisierte er. Aber mit Blick auf die Schullandschaft muss diese Leerstelle gefüllt werden. Hamburg beispielsweise habe fast ausschließlich Ganztagsschulen. Das bedeute, dass man in allen Phasen der Lehrerbildung den Ganztag mitdenken muss. Teamkompetenz, Kommunikationsfähigkeit und die pädagogische Haltung, mit den erweiterten Anforderungen im Ganztag umgehen zu können, auszubilden, sei daher zentrales Anliegen der Angebote des LI. „Wir brauchen multiprofessionelle Zusammenarbeit. Wir brauchen Sozialpädagogen, Psychologen und viele Beratungsstellen“, lautete sein Fazit.

 

Wie erfahren Pädagoginnen und Pädagogen Selbstwirksamkeit?

Erfolge im Unterricht und mit Schülerinnen und Schülern stärken das Gefühl von Selbstwirksamkeit. „Aber wann erleben Sie eigentlich Erfolge? Wer gibt Ihnen Rückmeldung?“ fragte Josef Keuffer das Publikum. Die eigene Arbeit zu reflektieren, hilft Erfolge zu erkennen. Aber das schafft man nicht nur und nicht immer alleine. Erfolg gespiegelt zu bekommen, über Supervision und Coaching, sei daher überaus wichtig. Deswegen bietet das LI Supervision und Coaching an – nicht nur für Schulleitungen, sondern auch für Lehrkräfte. Selbstregulation und Achtsamkeit sind Methoden, mit denen gearbeitet wird, um Lehrkräfte darin zu unterstützen, gesund zu bleiben. Denn die Anforderungen im Ganztag sind gestiegen: Kompensationsleistungen für das Elternhaus, Aufmerksamkeit für Kindeswohlgefährdungen sind nur zwei Beispiele, die gerade jungen Lehrkräften zusetzen.

Das LI hat auf die gestiegenen Anforderungen reagiert und bietet Programme zur Gesundheitsförderung. „Gehe in deiner Arbeit auf, aber nicht unter“, lautet das Motto und die Methoden dahinter sind eine Mischung aus verhaltens- und verhältnisorientierten Maßnahmen: selbst etwas tun, z. B. durch Achtsamkeit, ist eine Seite, aber das System, also Schule, kann auch etwas tun, z. B. einen Gesundheitszirkel einrichten und sich um die Gesundheit der Lehrkräfte kümmern. Es gibt in Hamburg Gefährdungsanalysen, die regelmäßig zeigen, wo die Schulen stehen, verbunden mit einem Interventionsprogramm, um Gefährdungen entgegenzuwirken.

 

In welchen Formaten können Pädagoginnen und Pädagogen ihr professionelles Handeln besonders gut weiterentwickeln?

Schulinterne Fortbildungen haben sich hier sehr bewährt. Daneben wird das Lernen voneinander und miteinander, der Austausch schulintern und mit anderen Schulen als überaus hilfreich erlebt, um professionelle Kompetenz weiterzuentwickeln. Dazu werden unterschiedliche Formate angeboten: die Teilnahme ganzer Teams an Supervisionen, kollegiale Unterrichtsreflexion mit gegenseitigen Hospitationen, professionelle Lerngemeinschaften und die Vernetzung von Schulen. 50 Hamburger Schulen haben z. B. die Bereitschaft erklärt, die Türe für Besuche zu öffnen.  

Professionelle Weiterentwicklung wird auch in Hamburg mit der Digitalisierung verknüpft. Das Landesinstitut hat einen Bezugsrahmen für den Umgang mit digitaler Bildung erarbeitet. Was sind die Potentiale digitaler Bildung, war eine der Ausgangsfragen. „Wir verbinden damit Werte und Leitideen, also Vorstellungen davon, was digitale Bildung bedeutungsvoll macht“, sagte Josef Keuffer. Der Bezugsrahmen beschreibt sinnvolle Grenzen digitaler Medien und Funktionen im Unterricht. Er beschreibt Kompetenzen, die Lehrkräfte für digitalisiertes Lehren brauchen. Digitale Bildung hieße auch, vorhandene Kompetenzen, z. B. der Schülerinnen und Schüler zu nutzen. „Das Digitale ist die Kulturtechnik der jungen Generation und es ist der andere Zugang zu Bildung, der das Potential digitaler Medien ausmacht“, betonte Prof. Dr. Keuffer. Professionelles Handeln weiterzuentwickeln, hieße deswegen auch, mit sich verändernden Lebenswelten Schritt zu halten.   

Die Präsentation von Prof. Keuffer finden Sie hier.

 

Prof. Dr. Katrin Höhmann, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, machte deutlich, dass sich die Qualität einer Schule daran erkennen lässt, dass sie Mittel und Wege gefunden hat, um produktiv mit den unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen, Interessen und Leistungsmöglichkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler umzugehen. Nicht nur aus der Forschung, sondern auch aus der Praxis, z. B. als Lehrkraft an der Laborschule Bielefeld, ist Katrin Höhmann mit der Umsetzung individualisierten Lernens vertraut. In ihrem Input bezog sie sich auf die methodische Umsetzung individualisierten Lernens. Sie mahnte zu Beginn, Methoden nicht als Rezepte zu missverstehen.

Wie können Pädagoginnen und Pädagogen individualisiertes Lernen in der Ganztagsschule so gestalten, dass Schülerinnen und Schüler für ihre Kompetenzentwicklung profitieren?

„Was wir wollen sind erfahrungs- und erkenntnisintensive Lernsituationen, in denen Schüler viel für sich mitnehmen und Lehrkräfte mit ihrem Wissen als Inputgeber zur Verfügung stehen“, sagte Katrin Höhmann. Das kann beispielsweise dadurch umgesetzt werden, dass das individuelle Lernen planvoll und kontinuierlich gefördert wird und Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit bekommen, ihr Lernen selbst in die Hand zu nehmen, selbst zu recherchieren, selbst zu bauen, sich auszutauschen.

 

Gute Beispiele

Sie wies auf die besondere Schullandschaft in Baden-Württemberg hin. Dort wurde es geschafft, 304 Schulen längeren gemeinsamen Lernens zu etablieren, sogenannte Gemeinschaftsschulen. Von längerem gemeinsamem Lernen, dafür gäbe es viele Indizien, profitieren die Schülerinnen und Schüler in ihrer Kompetenzentwicklung. Man schaue so gern in die nordischen Länder, allerdings nicht konsequent, sondern immer nur, indem das, was dort gut gelingt, heruntergebrochen wird auf die Einzelschule. Aber über die Schulstruktur müsse man ebenso nachdenken. Denn das, was in den skandinavischen Ländern gelingt, wird auch durch eine bestimmte Struktur getragen.

Man hat in Baden-Württemberg zu Anfang des Prozesses sehr genau überlegt, was gute Schule ausmacht und Kriterien formuliert, die auf die Schulen längeren gemeinsamen Lernens zutreffen sollen. „Es sind natürlich gebundene Ganztagsschulen, es sind alle Bildungsgänge in diesen Schulen, es sind natürlich Schulen, in die Kinder mit Handicap integriert sind“, fasste Katrin Höhmann zusammen. Diese Schulen arbeiten kompetenzorientiert. Es gibt Lernbüros und Projektarbeit. Was es nicht gibt, sind Noten – bis Jahrgang 8. Stattdessen gibt es Entwicklungsberichte, Coachings und Lerntagebücher. Multiprofessionelle Teams arbeiten in den Gemeinschaftsschulen. Netzwerkarbeit wird groß geschrieben.

 

Aber auch hier hakt es mitunter

Nun könnte man meinen, dass sich angesichts der guten Rahmenbedingungen und Ausstattung der Gemeinschaftsschule alle dieser Schulen zu Musterbeispielen entwickelt hätten. Die Motivationslagen, sich zur Gemeinschaftsschule zu entwickeln, waren jedoch sehr unterschiedlich. Es gäbe die Enthusiasten und ebenso die Pragmatisten, die die eigene Schule durch Umwandlung in eine Gemeinschaftsschule vor der Schließung bewahren wollten. Exemplarisch stellte Katrin Höhmann einige aktuelle Knackpunkte heraus, machte jedoch deutlich, dass insgesamt vieles sehr gut in den Gemeinschaftsschulen funktioniert.

In den Gemeinschaftsschulen gibt es drei Niveaus (Erweiterungs-, mittleres und Grundniveau). Die Lehrkräfte „sortieren“ die Schülerinnen und Schüler in die Niveaus ein. Schülerinnen und Schüler hätten da mitunter kaum Mitentscheidungsrecht. Aber manche Schülerinnen und Schulen suchen die Herausforderung und sind mit ihrer Einteilung nicht zufrieden und auch Lehrkräfte sind in ihrer Urteilsfähigkeit nicht unfehlbar. Mitunter sei die Haltung aber „Wenn ich dir sage, auf welchen Niveau du bist, dann ist das so“, meinte Katrin Höhmann.

In manchen Gemeinschaftsschulen sitzen die Schülerinnen und Schüler sechs Stunden im Lernbüro, müssen Texte lesen und Arbeitsblätter abarbeiten „Das ist eine wunderbare Vorbereitung auf die Verwaltungslaufbahn“, sagte Katrin Höhmann und falsch verstandene Differenzierung.

Oft würden die Potentiale der Schulform ungenutzt bleiben und Rahmenvorgaben enger ausgelegt, als das beabsichtigt ist. Partizipation von Schülerinnen und Schüler sei so mindestens erschwert. Die guten Schulen hingegen seien auch deshalb so gut, weil dort gefragt wird: Wie kann ich die Verfügungen und Erlasse im Sinne der Kinder nutzen? „Ich kenne nur die Erlasse, die meinen Schülern nutzen“, zitierte Katrin Höhmann einen Schulleiter.

 

Wie werden wir besser?

„Ich finde nicht, dass die Lehrerausbildung schlecht ist, aber ich finde, dass sich angehende Lehrkräfte zu wenig mit ihrer eigenen Bildungsbiographie und ihren Lernerfahrungen auseinandersetzen“, stellte Katrin Höhmann fest. Da könne man noch besser werden.

Es muss an Schulen eine Balance geben zwischen individualisierten Lernformen, anspruchsvollen Projektphasen und Inputphasen von Lehrkräften. Kinder und Jugendliche müssen mit allen Sinnen lernen dürfen und dabei herausgefordert werden. Sie brauchen Erwachsene, von denen sie lernen und an denen sie sich abarbeiten können und die eine klare Haltung zum Kind bzw. Jugendlichen haben.

„Mut, Kreativität, Verlässlichkeit und Selbstvertrauen brauchen wir, damit viele lernintensive Situationen entstehen können“, schloss Prof. Dr. Höhmann ihren Vortrag.