Die Max-Brauer-Schule in Hamburg war eine der ersten Gesamtschulen in Deutschland, die die Fächer- und Zeitstruktur grundlegend veränderten. Noch bevor die PISA-Ergebnisse die Leistung deutscher Schulen in Frage stellten, hatten die Lehrerinnen und Lehrer viele Reformvorhaben verwirklicht. Ein Gespräch mit Barbara Riekmann, der ehemaligen Schulleiterin der Max-Brauer-Schule.
Was ist an der Max-Brauer-Schule passiert und was zeichnet sie bis heute aus?
2001 gründeten wir eine „Traumgruppe“, um die Schule noch einmal grundsätzlich neu zu denken. Wir waren schon damals eine große Schule mit über hundert Kolleginnen und Kollegen. Diese galt es zu überzeugen. Das ist uns in einem dreijährigen Prozess gelungen. Die Neuausrichtung lässt sich in drei Säulen darstellen: dem Lernbüro, dem Projektunterricht und dem Werkstattunterricht. Jede Säule folgt ihrer eigenen Philosophie und fügt sich in eine neue Zeitstruktur, die den Alltag unserer gebundenen Ganztagsschule bis heute ausfüllt. Die ersten Schülerinnen und Schüler dieser neuen Max-Brauer-Schule machen in diesem Jahr Abitur. Das Lernbüro umfasst elf Wochenstunden und deckt größtenteils die Fächer Mathematik, Deutsch und Englisch ab. Der Projektunterricht umfasst zwölf Wochenstunden; hier finden die Fächer Gesellschaft, Arbeitslehre, Naturwissenschaften und vieles andere ihren Ort. In den vier Werkstätten, die jeweils zweistündig stattfinden, werden im Wesentlichen künstlerische, musische und sportliche Fähigkeiten entfaltet.
Was ist das Lernbüro und wie begründet sich dessen Erfolg?
Im Lernbüro arbeiten die Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage eigener Lernpläne, den Kompetenzrastern und Checklisten weitestgehend selbständig. Es müssen nicht alle das Gleiche machen.
Die Lehrerinnen und Lehrern beobachten und verfolgen die Fortschritte der Schülerinnen und Schüler, sie beraten und unterstützen diese, wenn sie Hilfe benötigen. Das eigenständige Lernen, die darauf bezogene Lernberatung, das regelmäßige Feedback auf die Lernfortschritte sind wichtige Elemente des Lernbüros. Hinzu kommen gemeinsame Phasen zu Themen, die von allen bearbeitet werden. Die wichtigste Entwicklungsarbeit bestand in der Herstellung von Kompetenzrastern und Checklisten. Durch das Institut Beatenberg waren wir inspiriert und haben darauf aufbauend unsere eigenen Raster entwickelt. Die Kompetenzraster geben den Schülerinnen und Schülern Orientierung. Hinter den Kompetenzrastern stehen Checklisten, die wiederum auf Aufgaben und dazugehörige Materialien hinweisen. Gerne hätten wir Extraräume für die Lernbürozeit eingerichtet, als Orte, an denen es gute Arbeitsplätze und viele Materialien für das eigenständige Arbeiten gibt. Das war unser Traum. Die Raumnot jedoch machte es nötig, dass der Klassenraum als Lernbüro genutzt wird. In ihm hat möglichst jeder Schüler einen eigenen Tisch mit einem eigenen Bürocontainer, in dem die Ordner und das Logbuch untergebracht sind.
Wie profitieren denn die Schülerinnen und Schüler von einem Lernbüro?
Unsere Schülerinnen und Schüler finden das Lernbüro richtig klasse, weil sie ihr Lernen selber in die Hand nehmen können. Das melden sie auch immer wieder zurück. Die Frage nach dem Lernertrag ließ sich über Lernstandserhebungen beantworten. Regelmäßig fanden und finden diese Erhebungen an unserer Schule statt. Sie zeigen, dass die Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu anderen Schulen um ein bis zwei Jahre im Vorsprung sind. Ich halte es für besonders wirksam, dass im Lernbüro an das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler angeknüpft wird. Der Umfang des Vorwissens bestimmt den individuellen Einstieg, wobei Defizite nicht als Nachteil verstanden werden. Die Schülerinnen und Schüler können von ihrem individuellen Ausgangspunkt her ihr Lernen selbst strukturieren, ihr Lerntempo bestimmen und sich Erfolge organisieren. Das ist ganz offensichtlich so motivierend, dass die Schülerinnen und Schüler gerne und erfolgreich lernen. Dabei ist die Heterogenität der Schülerschaft kein Nachteil, sondern eine wunderbare Grundlage für gemeinsames Lernen.
Was machen Lehrerinnen und Lehrer im Lernbüro?
Die Lehrerinnen und Lehrer müssen den Lernprozess der Schüler/innen gut begleiten. Sie müssen erkennen, welche Lernfortschritte gemacht und welche noch möglich sind, damit die Potentiale der Schülerinnen und Schüler optimal entfaltet werden. Zwei- bis dreimal im Jahr finden Schüler-Eltern-Lehrer-Gespräche statt, in denen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler reflektiert werden. Die Schülerinnen und Schüler schätzen ihre Leistungen selbst ein und auch die Lehrkräfte melden zurück, wie sie die Lernprozesse beobachtet und erfahren haben. Darüber hinaus ist die Grundlage zur Organisation eines Lernbüros, dass die Lehrerinnen und Lehrer im Team arbeiten, um Kompetenzraster und Materialien immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu ergänzen oder zu erneuern. Lehrersein an der Max-Brauer-Schule war schon immer Teamarbeit.
Warum passt das Konzept des Lernbüros ganz besonders gut in die Ganztagsschule?
Soll ein Lernbüro gut funktionieren, können wir nicht von 45 Minuten ausgehen, sondern müssen über Doppelstunden oder noch größere Zeiteinheiten nachdenken. Solche größeren Zeitkontingente lassen sich optimal in einer voll gebundenen Ganztagsschule mit darauf abgestimmter Rhythmisierung verwirklichen. Lernformen wie Projektunterricht, Lernbüro oder Werkstattlernen brauchen ihre eigene Zeit. Die Ganztagsschule ist hierauf die richtige Antwort.
Die Fragen stellte Dr. Sabine Schweder, Universität Greifswald
16.09.2015