23 Thesen für eine gute Ganztagsschule

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Voraussetzung ist, dass die in der Schule tätigen Erwachsenen die Interessen der Kinder wahrnehmen und vertreten und dass sie ihr Handeln an den altersgemäßen Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten der Kinder orientieren mit dem Ziel, die Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Kindes in allen Bereichen individuell zu unterstützen und Schaden abzuwenden.

Kinder nehmen Erwachsene, die in der Schule tätig sind, in erster Linie als „Erwachsene“ wahr. Für sie ist es im Prinzip zweitrangig, ob es sich um Lehrer oder Erzieher, um Hausmeister, Psychologen, Helfer oder Eltern anderer Kinder handelt. Wichtiger als die Unterscheidung nach Berufsfeldern ist für ein Kind zu wissen, wofür die einzelnen Erwachsenen zuständig sind und dass die Gruppe der zuständigen Erwachsenen das „Dach“ über dem „Haus“ bilden, in dem sich das Kind geschützt und geborgen fühlt und in dem es sich frei entfalten kann. Eine Schule ist für die Bildung und Entwicklung von Mädchen und Jungen ein Gewinn, wenn diese mit „Schule“ folgende Einstellungen und Gefühle verbinden können.

Hier werde ich ernst genommen, hier kann ich lernen und wachsen!

  1. Etwas zu lernen und zu können ist eine wunderbare Erfahrung! Meine Fragen werden beantwortet, meine Ideen und Gedanken ernst genommen, ich komme voran und ich bin stolz, dass ich immer mehr weiß und kann.
     
  2. Hier wird mir das zugetraut und zugemutet, was ich leisten kann und diese Leistung wird wertgeschätzt: Die Erwachsenen wissen, wo meine Stärken sind, und fordern mich heraus. Aber sie kennen auch meine schwachen Seiten. Sie gestehen mir zu, dass ich manches noch nicht kann oder weiß, was andere in meinem Alter schon können und wissen, und sie ermutigen mich, an den Schwächen zu arbeiten, ohne dass ich mich minderwertig fühle und schämen muss oder gar ausgegliedert werde. 
     
  3. Ich kann selbst mit entscheiden, was ich erreichen möchte. Die Erwachsenen helfen mir dabei und sagen mir am Ende auch genau, was gut ist und wie ich etwas besser machen kann. Das brauche ich, um zu wissen, woran ich weiter arbeiten muss.
     
  4. Wenn ich etwas nicht schaffe, was ich erreichen möchte, wird mir geholfen: von den Erwachsenen oder von Kindern, die es können – egal, ob sie so alt wie ich, älter oder jünger sind. Und wenn ich etwas kann oder weiß, was ein anderer noch nicht kann oder weiß, dann helfe ich.
     
  5. Ich kann mein Arbeitstempo selbst bestimmen. Keiner unterbricht mich, wenn ich konzentriert arbeite. Aber ich werde auch nicht zu einer Arbeit gezwungen und nicht dazu, mich zu konzentrieren, wenn ich es gerade nicht kann.
     
  6. Besonders profitiere ich von „Projekten“, bei denen wir über mehrere Wochen zusammen mit jüngeren und älteren Kindern etwas erforschen, anfertigen, oder auf die Beine stellen, weil wir gemeinsam versuchen heraus zu finden, wie man etwas macht, wie etwas geht oder funktioniert, wie Dinge zusammen hängen. Am Ende des Projekts haben es alle zusammen geschafft und das ist ein gutes Gemeinschaftsgefühl.
     
  7. Weil Erwachsene in der Schule am Vor- und Nachmittag verschiedene Angebote machen, kann man noch mehr erfahren, tun und lernen: Fahrrad reparieren, Gitarre spielen, Fußball trainieren, tanzen, Theater spielen, Arabisch lernen, Vögel bestimmen - Dinge, die uns Lehrer und Erzieher nicht vermitteln, weil sie nicht alles können. Von diesen anderen Erwachsenen erfahren wir auch mehr darüber, wie das Leben außerhalb der Schule ist, wenn man erwachsen ist.
     
  8. Wir sind nicht immer nur in der Schule, sondern gehen auch oft zu anderen Orten, wo wir interessantes erleben, erfahren, kennen lernen, uns aneignen und üben können.
     
  9. Und es gibt so gut wie nie Hausaufgaben, weil wir alle Übungen, Anwendungen zur Festigung des Gelernten oder Vorbereitungen fast immer in der Schule gemeinsam oder in stiller Einzelarbeit machen können.
     
  10. Grenzen und Freiräume werden erklärt und fest vereinbart. Sie ändern und erweitern sich mit meinem Alter.
     
  11. Die Erwachsenen fragen mich und die anderen Kinder nach unserer Meinung und unseren Ideen, wenn es um Dinge geht, die für uns wichtig sind oder die uns betreffen, und unsere Meinung wird ernst genommen.
     
  12. Hier gibt es Erwachsene, die mich mögen und schätzen, denen ich vertraue, weil sie mir zuhören, mich ernst nehmen und mich bestärken; die mir aber auch sagen, wenn ich mich falsch verhalte und wie ich es besser machen kann.
     
  13. Ich brauche keine Angst vor der Schule zu haben, nicht vor Entwertung, Beschämung oder Ausgrenzung durch Lehrer und auch nicht vor seelischen oder körperlichen Verletzungen durch andere Kinder.
     
  14. Es gibt Regeln, die alle kennen – und ich kann mich darauf verlassen, dass Kinder und Erwachsene darauf achten, dass sie eingehalten werden. (Zum Beispiel, dass wir unsere Kraft aneinander messen dürfen, aber keiner dem anderen absichtlich wehtun darf).
     
  15. Wenn ich Energie habe, bekomme ich von den Erwachsenen etwas zu tun, wenn ich erschöpft und müde bin, kann ich mich zurückziehen und ausruhen oder etwas für mich selbst machen.
     
  16. Es gibt genug Zeit und Orte, wo wir Kinder, ganz für uns, mit anderen Kindern zusammen sein können.
     
  17. Die Mittagspause ist lang genug, um mich auszutoben, zusammen mit Freunden oder allein etwas zu machen, was  Spaß macht, oder mich zurück zu ziehen, mich mit meinem Hobby zu beschäftigen, zu lesen, ein Musikinstrument zu spielen oder ein Kunststück einzuüben, am PC zu arbeiten oder miteinander etwas „Richtiges“ zu machen – zum Beispiel etwas zu organisieren, was für alle wichtig ist, etwas herzustellen, zu reparieren, zu erfinden.
     
  18. In der unterrichtsfreien Zeit sind zwar Erwachsene da, die man rufen oder fragen kann, aber wir Kinder können selbst erfinden und entscheiden, was wir machen wollen, wenn es nicht gefährlich, schädlich oder rücksichtslos ist.
     
  19. Es gibt auf dem Schulgelände und im Schulhaus genug Platz und Gelegenheiten, um mit anderen zu spielen, Sport zu treiben, Kunststücke zu üben, oder zu experimentieren. Es stehen Sport- und Spielgeräten zur Verfügung, es gibt Klettermöglichkeiten, Bereiche, in denen man bauen und gestalten kann, aber auch Verstecke, geheime und ruhige Ecken.
     
  20. Es gibt Bücher, Hefte, Zeitschriften, DVDs, Videos und Musikkassetten, die zu meinem Alter passen und die ich ausleihen kann. Ich kann am Computer arbeiten. Es gibt Material zum Werken, Malen und Gestalten. Es gibt Leihinstrumente für Kinder, die ein Musikinstrument ausprobieren möchten. Und für alle Bereiche sind Erwachsene da, die mir helfen, wenn ich Rat und Hilfestellung brauche.
     
  21. Die Räume sind freundlich, sauber und gepflegt, Es riecht angenehm und es ist in den Arbeitsräumen nicht laut.
     
  22. Es gibt ein gutes Mittagessen, bei dem sich jeder selbst nimmt, und auch sonst gibt es frisches Obst und immer etwas zu trinken.
     
  23. Auch nach Schulschluss und in den Ferien ist meistens jemand in der Schule. Dort kann ich mich dann mit anderen Kindern treffen. Und auch Erwachsene, die in der Nähe der Schule wohnen, treffen sich da und manche machen etwas mit uns.

Vielfache Erfahrungen bestätigen, dass es auch für die Lehrenden zufrieden stellender und entspannter ist zu arbeiten, wenn sich das gemeinsame Arbeitsziel an den Interessen und Bedürfnissen der Kinder ausrichtet. Ein angenehmes Schulklima wirkt sich erwiesenermaßen positiv auf die Schulleistungen aus. Für eine menschlichere und erfolgreichere Schulkultur müssen wir umdenken. Weg von der Frage: „Welchem Anspruch müssen Kinder und Jugendliche in welchem Alter gerecht werden?“ hin zu der Frage: „Was braucht dieses eine Kind, um sich in seiner ganzen Persönlichkeit gesund weiter entwickeln zu können?“. Diese Grundhaltung einem heranwachsenden jungen Menschen gegenüber hat viel mit der Vermittlung und Verwirklichung mitmenschlicher und demokratischer Werte zu tun.

Begründung

Die Lebensbedingungen von Kindern in den Industrienationen haben sich dramatisch verändert: ihr Alltag wird nicht nur durch zunehmenden Medienkonsum, elektronische Spielsachen, veränderte Ernährungsgewohnheiten, geringe Geschwisterzahl und höheren Schuldruck bestimmt, sondern auch durch zurückgehende Bewegungs-, Begegnungs-, Spiel- und Erfahrungsräume. Das betrifft vor allem Kinder im Schulalter, die dem „Kleinkind- Spielplatz“ mit Sandkasten, Schaukel und Rutsche entwachsen sind, die aber an den gängigen Jugendfreizeitbeschäftigungen noch kein Interesse haben.

Die „Großen Kinder“ zwischen etwa 6 und 14 Jahren brauchen für eine gesunde seelische, körperliche soziale und emotionale Entwicklung neben Unterweisung und Anleitung durch Erwachsene vor allem ausreichend Zeit und Raum, um ohne direkte Beeinflussung durch Erwachsene mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, sich zu bewegen, aus eigener Initiative aktiv zu sein, sich im eigenständigen Spiel selbst zu erfahren, die Welt in einem allmählich größer werdenden Radius zu entdecken. Forschungen bestätigen immer wieder, dass Kinder, die genug Platz, Zeit, Anregungen und Altersgenossen haben, um diese grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft seltener fernsehen, besser in der Schule sind, sich gesünder fühlen und selbstsicherer sind, weniger aggressiv oder depressiv sind und weniger unter Stresssymptomen leiden.

Kinder dieser Altersstufe brauchen neben der Zuwendung, Anerkennung und Führung durch Erwachsene auch die Anregung und Unterstützung durch ältere Kinder und Jugendliche. „Große Kinder“ brauchen auf ihrem Weg ins Jugendalter ein „Geländer“ aus Verlässlichkeit, klaren Regeln und Strukturen, an dem sie sich halten und orientieren können. Kinder müssen selbstverständlich an allen Grundrechten teilhaben, wie dem Recht auf altersgerechte Mitsprache bei Dingen, die sie betreffen, auf Schutz vor seelischen und körperlichen Verletzungen. Dazu gehört auch, dass Kinder nicht in seelisch oder körperlich verletzender Weise zu Arbeit gezwungen werden dürfen. Nicht selten wird ausgerechnet gegen dieses Grundrecht im Zusammenhang mit „Schul-Arbeiten“ in Deutschland unbedacht verstoßen. Kinder leiden darunter. Nicht zuletzt sind Kinder darauf angewiesen, dass sich Erwachsene um die elementare Grundversorgung wie regelmäßiges Essen, ausreichend Schlaf, Körperpflege usw. kümmern.

Unter den derzeitigen Lebensbedingungen kommen bei zu vielen Schulkindern in Deutschland zu viele dieser Grundbedürfnisse zu kurz. Das wichtigste Indiz dafür ist die steigende Zahl und die intensivere Ausprägung von Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, psychischen, psychosomatischen und chronischen Erkrankungen Die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen solcher Entwicklungen sind nicht nur teuer, sie sind vor allem eine schwere Hypothek für die betroffenen Kinder: soziale und seelische Belastungen im Kindesalter sind oft die Ursache für Schulversagen und Ausbildungsprobleme und damit für spätere Arbeitslosigkeit, Armut, im schlimmsten Fall für Delinquenz. Emotionaler Hunger im Kindesalter kann später in Form von psychischen Erkrankungen zurückschlagen. Auch die körperlich-motorischen Defizite, die bei immer mehr Kindern festgestellt werden, wirken sich nicht nur in organischen Erkrankungen aus, sondern haben auch negative Wirkung auf die kognitive und sozioemotionale Entwicklung.

Andererseits erwerben Kinder, die sich noch weitgehend eigenständig in der Umgebung ihrer Wohnung mit anderen Kindern treffen und auf eigene Faust ihre „Welt entdecken und erobern“ können, die ihre „eigenen“ Lebens- und Rückzugsräume haben, offenkundig jene wichtigen Schlüsselqualifikationen, die sie benötigen, um mit anderen befriedigend zusammenleben und zusammenarbeiten zu können. Davon profitieren Familie und Freundeskreise. Diese Qualifikationen sind aber auch für die modernen Dienstleistungsgesellschaft unabdingbar, werden gleichwohl bei jungen Bewerbern und Berufseinsteigern oftmals vermisst: Rücksichtnahme, Taktgefühl, Teamfähigkeit, Selbstsicherheit, Selbstkritik, Initiative, Kreativität, Improvisationsgabe, Beweglichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Risikoabschätzung, um nur einige zu nennen.
 
Es gibt also genügend Hinweise darauf, dass es zu kurz gedacht ist, wenn wir uns in der aktuellen Schuldiskussion vorwiegend an kognitiven Bildungsstandards orientieren. Für die Zukunft unserer Gesellschaft sind über die Lerninhalte hinaus die Bedingungen des Aufwachsens der Kinder – vor allem in den Jahren vor der Pubertät! – von ganz entscheidender Bedeutung. Wenn man die gesunde körperliche, geistige, emotionale und soziale Entwicklung der Kinder als Fundament einer intakten Demokratie und einer produktiven, kreativen Ökonomie versteht, dann muss die Einrichtung von Ganztagsschulen als Chance genutzt werden. Denn eine Schule, die sich nicht nur als Lern-, sondern auch als Lebensort für Kinder versteht, kann einen wesentlichen Beitrag leisten, verloren gegangene Lebensqualität für „Große Kinder“ wieder herzustellen.

 

Von Lothar Krappmann und Oggi Enderlein

 

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Dipl.-Psychologin Oggi Enderlein
Freiberufliche Kinder- und Jugendpsychologin und Supervisorin BDP
Prof. Dr.Lothar Krappmann,
Ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung,  Mitglied der Kommission für die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen, Honorarprofessor für Soziologie der Erziehung an der Freien Universität Berlin


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